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Archiv-Artikel

Die Livehaftige

KOPFKINO Seit mehr als 20 Jahren kommentiert Sabine Töpperwien Fußballspiele im Radio. Die taz hat sie einen Spieltag vor Ende der Bundesligasaison ins Stadion begleitet – und gesehen, was man nicht hören kann

Sabine Töpperwien

■ Anfänge: Sabine Töpperwien wird am 6. Oktober 1960 in Seesen am Harz geboren. Die Eltern sind beide Fußballfans, der Vater erklärt ihr und ihrem zehn Jahre älteren Bruder Rolf Taktik und Spielsystem. Am Wochenende geht’s zu den Spielen des VfL Osterode.

■ Amateurin: Mit 16 ist ihr klar, das soll ihr Beruf werden. Sie schreibt für verschiedene Tageszeitungen über Fußball, studiert Sozialwissenschaft in Göttingen, Diplomarbeit: Tendenzen der Professionalisierung des Fußballsports in Deutschland in seinen historischen und sozialen Dimensionen.

■ Profi: 1985 fängt sie als freie Mitarbeiterin beim NDR an, wird zwei Jahre später fest angestellt. 1989 wirbt der WDR sie ab. Nach Köln geht sie nur, weil dort die Bundesligakonferenz koordiniert wird. Seit 2001 leitet sie die Sportredaktion des WDR-Hörfunks. BJI

AUS GELSENKIRCHEN BENJAMIN WEBER

Das Spiel ist aus, und Sabine Töpperwien hat endlich Ruhe. Wenigstens ein bisschen. Sie hat sehr viel geredet an diesem Nachmittag, über zweieinhalb Stunden hat sie sich immer wieder aus der Veltins Arena auf Schalke gemeldet. Nun liegt das Mikro zwischen den Muscheln des Kopfhörers auf dem Reportertisch, Sabine Töpperwien lehnt sich zurück und guckt im Handy SMS, Mails und verpasste Anrufe durch.

Auf dem Platz hat der FC Schalke 04 soeben die Deutsche Meisterschaft vergeigt. Einen Spieltag vor Schluss. Humor- und kompromisslos gewann Bremen 2:0, nun steht Bayern als Meister fest. Und trotzdem sind die Fans noch da, sie feiern seit der 80. Minute, da war alles längst entschieden. Unten dreht Felix Magath eine Ehrenrunde, die Fans haben den Trainer rausgeklatscht. Magath hat Tränen in den Augen, jedenfalls sieht es von hier oben danach aus. „Wo haste so was nach so nem Spiel?“, fragt die Reporterin. „Unfassbar.“

Stadionatmo für zu Hause

Sabine Töpperwien kommentiert Fußballspiele im Radio – immer noch, obwohl längst auch das Bezahlfernsehen live aus den Stadien sendet, im Internet gestreamt wird und es Ergebnisdienst-Apps für Smartphones gibt. Doch Stadionatmosphäre vermittelt sich zu Hause nur im Radio, getragen von der in die Fangesänge eingebetteten Stimme des Kommentators. Der versucht das Spielgeschehen zu beschreiben, fabriziert grammatikalisch schiefe Konstruktionen, beendet Sätze falsch oder gar nicht, schreit, stöhnt, seufzt. Was genau auf dem Platz passiert, müssen sich die Hörer selbst vorstellen. Trotzdem schalten im Schnitt sechs Millionen ein.

Der königsblaue Reportertisch steht auf der Haupttribüne, Höhe Mittellinie. Mikro, Kopfhörer, ein Fernseher für die Zeitlupen. Vor jedem Spiel schreibt sich Sabine Töpperwien einen Zettel. Oben die Aufstellungen mit Rückennummern, bei Auswechslungen wird korrigiert. Darunter, links und rechts am Rand, hat sie sich zu jeder Mannschaft Fakten aufgeschrieben. Vielleicht braucht sie die, wenn sie dran ist, auf dem Platz aber gerade nix passiert. Auf dem freien Feld in der Mitte des Zettels wird sie während des Spiels wichtige Szenen notieren, Tore, Chancen, Fouls, Karten, immer mit genauer Minutenangabe.

Drei Uhren stehen vor Töpperwien: eine Stoppuhr für die Spielzeit, eine für die Redelänge und eine Funkuhr, damit sie ihre Einsätze nicht verpasst. Alle Sender der ARD wollen wissen, wie das Spiel läuft, also gibt es einen genauen Plan, wer wann zu Sabine Töpperwien ins Stadion schaltet. „Ich muss auf die Sekunde genau sein. Fange ich zu spät an, ist ein Loch in der Sendung. Redet der Moderator zu lange, falle ich ihm ins Wort. Der darf mir auch nie ne Frage stellen, weil ich die ja nicht hören kann.“ Nur den Moderator des WDR hat sie auf dem Ohr.

Und so reportiert sie sich von Abruf zu Abruf durch die erste Halbzeit. Schalke spielt nicht meisterlich, Bremen steht gut, es passiert nicht viel. Jedem Sender, mit dem sie verbunden wird, erzählt sie von der einen Schalker Chance: „22. Minute, scharfe Hereingabe von Rafinha von rechts“, dabei schneidet sie ihre Stimme an, klingt beeindruckt, mitgerissen, spricht hoch und schnell. Dann verschwindet die Aufregung, sie spricht langsamer und tiefer, etwa so, als habe man die Luft rausgelassen: „Doch Kuranyis Kopfball trifft nur die Latte.“ So kennt man sie. „Werder Bremen ist ein starker Kontrahent“, sagt sie dann, „Schalke spielt mit angezogener Handbremse.“ Und: „Die Mannschaften sind noch in der Abtastphase.“ Um 16.08 Uhr wird es spannend. Die Halbzeitkonferenz beginnt.

Die Konferenzschaltung ist das Herzstück. Am Ende beider Halbzeiten kommentieren die Reporter reihum, alle Mikrofone sind offen. „Die Faszination von Fußball im Radio liegt in der Livehaftigkeit“, sagt Sabine Töpperwien. „Die Hörer haben das Gefühl, durch uns Reporter live im Stadion zu sein, und eben nicht in einem, sondern in allen gleichzeitig.“ Fällt irgendwo ein Tor, unterbricht der jeweilige Reporter. In der zweiten, zum Saisonfinale fast komplett in Konferenzschaltung übertragenen Halbzeit muss auch Sabine Töpperwien ihre Kollegen unterbrechen. 55. Minute, Mesut Özil bekommt auf der rechten Seite den Ball und steuert auf den Strafraum zu. Töpperwien räuspert sich leise, das Zeichen für den Regisseur, dass er sie schon mal laut machen kann, weil gleich etwas passieren könnte.

Als Sabine Töpperwien 1989 zum WDR kam, war sie die erste Frau in Deutschland, die Fußballspiele live kommentierte. Die männerdominierte Fußballwelt hatte bereits 1973 gezeigt, was sie von weiblichen Eindringlingen hielt: Nachdem Carmen Thomas, die erste Moderatorin des „Aktuellen Sportstudios“, irrtümlich den „FC Schalke 05“ angekündigt hatte, wurde sie ausgelacht.

Unter Machos

Als Sabine Töpperwien 1989 zum WDR kam, war sie die erste Fußballkommentatorin in Deutschland. Auch heute meldet sich nur eine weitere Frau live aus dem Stadion: Martina Knief vom Hessischen Rundfunk

Töpperwien erging es auch einen solchen Schnitzer 16 Jahre später nicht anders. „Das war nicht einfach, weil sehr viel Polemik ins Spiel gebracht wurde. Vorbehalte unter dem Motto ‚Frauen vom Fußballplatz? Das könnt ihr uns nicht antun! Schickt die an den Herd oder lasst die Kinder kriegen‘ – auf dem Niveau. Das hat mir wehgetan, aber weil es unsachlich war, lernte ich irgendwann, damit umzugehen.“

Ihr großer Bruder Rolf, Sportreporter beim ZDF, hatte sie auf die harten Bedingungen vorbereitet, war aber anfangs selbst ein relativ großer Schatten. „Otto Rehhagel hat mal zu mir gesagt, das war Ende der Achtziger: ‚Bevor Sie nicht den Schweiß der Kabine gerochen haben, unterhalte ich mich nur mit Ihrem Bruder über Fußball.‘ Ich hab ihm vorgeschlagen, mich in die Kabine einzuladen, das hat er aber nie gemacht.“ Zwei, drei Jahre später kam Rehhagel auf sie zu. Es sei doch ganz ordentlich, was sie da mache. Seine Frau hatte ihn überzeugt. Mittlerweile wird Sabine Töpperwien von Hörern, Kollegen und Aktiven geschätzt. Und trotzdem: Neben ihr kommentiert nur eine weitere Frau Fußball im Radio, Martina Knief vom Hessischen Rundfunk.

Emotionen für Millionen

„Tor auf Schalke!“ – Schockstarre bei den Schalke-Fans am Radio: Entweder hat Königsblau mit Bayern gleichgezogen – oder Bremen führt, und der Traum ist wieder einmal geplatzt. Töpperwien ist aufgesprungen, nimmt das Mikro ein Stück vom Mund weg, wird leicht rot im Gesicht, der Kollege gibt ab „zu Sabine“, die jetzt ausruft, dass Bremen in Führung gegangen ist, und während sie aufgewühlt das Tor beschreibt – Mesut Özil hat zwei Schalker aussteigen lassen, der Ball ist drin, links unten –, flüstert ihr der Regisseur durch den Kopfhörer leise zu, in welches Stadion sie weitergeben soll.

„Diese Live-Schilderung ist die emotionalste, aber auch die fachlich schwierigste Berichterstattung“, erklärt die Reporterin später. Unten auf dem Platz hat Felix Magath seine Runde gleich beendet, die Fans jubeln immer noch, die Mannschaft sitzt auf dem Rasen und schaut sich das Spektakel an. „Wir müssen uns in der Sekunde, in der etwas passiert, festlegen. Es ist oft schwer zu entscheiden: Elfer oder nicht? Wir müssen reden, reden, reden. Wir müssen auf die Uhren schauen und pünktlich sein, wir müssen auf den Zettel achten und denken: Hast du dem Sender das schon erzählt oder nicht? Da passieren Grammatikfehler schon mal. Ich glaube, dass unsere Hörer uns das verzeihen. Die wollen dabei sein, und wir sollen einfach drauflosplappern.“ Während der Trainer unten noch mal den Fans winkt, setzt sich Töpperwien wieder ihren Kopfhörer auf. Sie wird jetzt noch zwei Nachberichte einsprechen. Dann erst ist Feierabend.