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Archiv-Artikel

Die große Verweigerung

EUROPÄISCHE KOMMISSION Ein Monopol auf Untätigkeit? Über die umweltpolitische Passivität der Juncker-Kommission

Winter, de Sadeleer, Misonne

■ Gerd Winter ist Forschungsprofessor an der Universität Bremen und leitet die Forschungsstelle für Europäisches Umweltrecht (FEU). Nicolas de Sadeleer ist Professor und Delphine Misonne Senior Lecturer an der Universität St Louis, Brüssel. Der Artikel fasst eine Analyse zusammen, die von der avosetta-group, einem Netzwerk europäischer UmweltrechtlerInnen (www.avosetta.org), angenommen worden ist.

Die Europäische Kommission hat das alleinige Initiativrecht für die Gesetzgebung der EU. Dies sollte ursprünglich den Integrationsprozess beschleunigen. Man erwartete vom Rat eher Hemmungen, und das Europäische Parlament trat erst später hinzu. Die Kommission hat ihr Anstoßmonopol lange Zeit aktiv wahrgenommen. Im Bereich der Umweltpolitik zählen zu den Pionierleistungen das Naturschutznetz Natura 2000, technische Anforderungen an industrielle Produktion, die Wiederverwertung von Abfällen, die Umweltverträglichkeitsprüfung bei größeren Projekten und Plänen, freier Zugang zu Umweltinformationen, Bürgerbeteiligung und Verbandsklage.

Die Juncker-Kommission scheint das Initiativmonopol im Umweltsektor dagegen als Recht zur Initiativverweigerung zu verstehen. Diesen Eindruck vermittelt das Arbeitsprogramm, das die Kommission am 16. Dezember 2014 dem Europäischen Parlament vorlegte. Drei Facetten hat diese Politik: „Refit“ alter Rechtsakte, Aufgabe laufender Vorschläge und Verzicht auf neue Rechtsakte.

Refit

Bereits unter José Manuel Barroso wurde ein Programm aufgelegt, nach dem vorhandene Rechtsakte bewertet werden, ob sie „fit for purpose“ sind. Die Juncker-Kommission macht dies nun zu einer hohen Priorität. Dagegen ist an sich nichts einzuwenden, wenn die Prüfung für ein Ergebnis offen ist, dass die fragliche Regelung ihr Ziel nicht erreicht und deshalb noch verstärkt werden muss. Tatsächlich hat Refit aber einen Schlag zur anderen Seite: Es wird vor allem gefragt, ob die Regelung aufgeweicht oder ganz abgeschafft werden sollte. Es geht um „cutting of red tape“ (offiziell übersetzt als Bürokratieabbau und Beseitigung des Regulierungsdickichts), nicht um effektivere Zielerreichung. Zum Beispiel sollen die beiden zentralen Rechtsakte zum Schutz gefährdeter Habitate und Arten bewertet werden. Sie haben ermöglicht, dass gegen massiven Widerstand der Schutz von etwa 15 Prozent der Landfläche der EU durchgesetzt wurde. Werden sie nun daraufhin geprüft, wie die vielen immer noch bestehenden Vollzugsdefizite unterbunden werden können? Kaum: Man muss damit rechnen, dass nach Investitionshemmnissen und einer „Flexibilisierung“ des Naturschutzes gefragt wird.

Das Programm „clearing the desks“ ist eine genuine Erfindung der neuen Kommission. Auch hier wäre nichts einzuwenden, wenn es um die Aufgabe von Vorschlägen ginge, deren Ziele obsolet oder deren Maßnahmen ungeeignet sind. Aber das Programm hat anderes im Sinn. Aufgegeben wird ein ambitionierter Gesetzgebungsvorschlag zur Verbesserung der Kreislaufwirtschaft, der auf die Steigerung des Recyclings von Siedlungsabfällen und die bessere Überwachung gefährlicher Abfälle und anderes zielt. Er stammt von 2014, ist also ganz frisch und noch keineswegs obsolet. Als Grund für den Rückzug wird angegeben, dass bis Ende 2015 ein umfassenderer Vorschlag zur Kreislaufwirtschaft vorgelegt werden solle. Nur, man kennt sie schon, diese umfassenden Zugriffe: Bis sie angenommen sind, vergehen Jahre, und inhaltlich verlangen sie meist zunächst die langwierige Aufstellung von Plänen statt unmittelbarer Aktion.

Vorschläge zurückgezogen

Ähnlich besorgniserregend ist die Zurückziehung des Vorschlags zur weiteren Verbesserung der Luftqualität in der EU. Bei der Umsetzung von Verpflichtungen aus präzisen internationalen Vereinbarungen, denen die EU zugestimmt hatte, sollen strengere Standards für eine breite Palette von Luftschadstoffen von Stickoxiden bis zu organischen Verbindungen gesetzt werden. Auch dieser Vorschlag ist jung, er stammt von 2013. Erneut wird gesagt, der Rückzug diene der Ermöglichung eines umfassenderen Ansatzes, diesmal im Zusammenhang mit der Klimaschutzpolitik. Warum das? Der Vorschlag war immerhin aus einer sorgfältigen Ermittlung der bisherigen Unzulänglichkeiten hervorgegangen. Warum diese nicht beseitigen und parallel dazu den großen Wurf vorbereiten?

Ihr Initiativmonopol im Umweltbereich scheint die EU-Kommission als Recht zur Initiativverweigerung zu verstehen

Keine neuen Initiativen

Das eigentliche Defizit besteht jedoch darin, dass das Juncker-Programm umweltpolitisch nur Klimaschutz und erneuerbare Energien im Blick hat, und auch dies ohne Seitenblick auf ökologische Nebenfolgen wie bei der Biomasseerzeugung. Große Aufgaben sind noch unerledigt – wie der Naturschutz auch außerhalb von Natura-2000-Gebieten, eine Deindustrialisierung der Landwirtschaft, eine integrierte Produktpolitik, eine Verringerung des motorisierten Individualverkehrs, der Schutz des Bodens gegen Erosion und Verseuchung, die Verbandsklage gegen EU-Rechtsakte und Initiativen auf unendlich vielen Feldern internationaler Umweltpolitik. Man könnte auf den neuen Umweltkommissar Karmenu Vella hoffen, aber für den gibt es erklärtermaßen Umweltpolitik nur als „green growth“ und „blue growth“. Umweltpolitik schafft auch Arbeitsplätze, kein Zweifel, aber sie würde pervertiert, wenn das ihre hauptsächliche Messlatte wäre. Langfristige Perspektiven der Ressourcenschonung und Selbstbeschränkung beim Ressourcenverbrauch hätten dann keinen Platz mehr. Darf die Kommission untätig sein? Nach dem Unionsvertrag ist die Initiativfunktion der Kommission nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht. Diese wird im Vertrag über die Arbeitsweise der Union für die Umweltpolitik weiter konkretisiert. Vorgeschrieben wird ein hohes Umweltschutzniveau, eine umsichtige Verwendung natürlicher Ressourcen und eine aktive Umweltpolitik. Wenn die Kommission sich diesen Aufgaben verweigert, müssen andere Institutionen in die Bresche springen. Im Europäischen Parlament wurden bei der Vorstellung des Juncker- Programms bereits kritische Stimmen laut. Auch aus dem Europäischen Rat gab es kritische Reaktionen. Das Parlament und der Rat haben seit der Fassung der Verträge von Lissabon ein indirektes Initiativrecht, durch das sie die Kommission auffordern können, Gesetzgebungsvorschläge vorzulegen. Es gibt also glücklicherweise kein Monopol mehr, nicht zu handeln. Aber welche Blamage für die Kommission, wenn sie zum Jagen getragen werden müsste! GERD WINTER, NICOLAS DE SADELEER, DELPHINE MISONNE