: „Eine Ohrfeige war im Grunde der Anfang meiner politischen Karriere“
DER INTEGRATOR Es ist gar nicht so leicht, in einem türkischen Café in Kreuzberg ein ruhiges Gespräch mit Riza Baran zu führen. Denn jeder Zweite, der die Teestube betritt, kennt Baran und hat ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Als Baran vor 50 Jahren nach Deutschland kam, hätte er sich das nicht gedacht. Heute ist der 71-Jährige der „große alte Mann“ der Integrationspolitik in Berlin
■ Der Politiker: Gerade eben hat Riza Baran seinen 71. Geburtstag gefeiert. Im März 1963 kam der pensionierte Ingenieur und Berufsschullehrer aus der Türkei nach Deutschland. Zunächst lebte er in Bayern und Hannover, seit 1970 in Berlin. Hier gründete er 1978 die Alternative Liste, die späteren Grünen, mit, für die Baran von 1992 bis 1995 in der Kreuzberger und von 2001 bis 2006 in der Friedrichshain-Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung (BVV) saß, in der zweiten Zeitspanne war er BVV-Vorsteher. Dazwischen war Baran von 1995 bis 1999 Mitglied des Abgeordnetenhauses. Er war der erste direkt gewählte Abgeordnete der Grünen in Berlin.
■ Der Aktivist: Auch außerparlamentarisch war Baran aktiv – als Mitbegründer des Türkischen Elternvereins und bei der Kurdischen Gemeinde in Berlin, deren Ehrenvorsitzender er ist. Als Lehrer engagierte er sich in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und gründete die Berliner Sektion von SOS Rassismus mit.
INTERVIEW ALKE WIERTH FOTOS PIERO CHIUSSI
taz: Herr Baran, Sie hatten auf der Reise viel Zeit zum Nachdenken, als Sie vor 50 Jahren mit dem Zug aus der Türkei nach Deutschland kamen …
Riza Baran: Ja, die Fahrt dauerte fast drei Tage!
Was hätten Sie damals einem gesagt, der Ihnen prophezeit hätte, dass Sie ein halbes Jahrhundert später in Berlin-Kreuzberg fast jeder Zweite kennen wird, dass Sie Mitbegründer einer Partei und ihr erster direkt gewählter Abgeordneter in Berlin sein würden?
Dem hätte ich gesagt, er spinnt!
Was waren denn Ihre Zukunftserwartungen damals?
Ich kam, um Ingenieurwesen zu studieren und dann in die Türkei zurückzukehren. Ich war zwanzig und hatte in der Türkei bereits mit dem Studium begonnen. Aber ich hatte schon als Schüler beschlossen, dass ich unbedingt im Ausland studieren wollte. Und zwar in Deutschland.
Warum Deutschland?
Das lag an meinem Philosophielehrer, der mit uns Kant, Hegel, Wittgenstein und Nietzsche besprochen hat. Ich glaube, ich war in der Schule der Einzige, der dabei interessiert zugehört hat. Das hat mich zum Deutschlandfan gemacht. Und der Fußball. Ich konnte damals schon die Spieler fast aller großen deutschen Vereine auswendig und bin immer noch Fußballfan.
Also: Ein Zwanzigjähriger auf dem Weg aus der Türkei ins für Fußball und Philosophie bewunderte Deutschland. Wie hat der sich gefühlt?
Ich hatte vor allem Angst, dass ich nicht klarkomme. Ich konnte außer Danke kein Wort Deutsch. Außerdem hatte ich noch nie in einer großen Stadt gelebt. Und als ich am Münchner Bahnhof ankam, war niemand da, um mich abzuholen. Erst am nächsten Tag fand ich zum Goethe-Institut, wo mein Sprachkurs sein sollte – und es stellte sich heraus, dass ich zehn Tage zu früh gekommen war. Für die eine Übernachtung im Hotel hatte ich aber schon mein halbes Monatsstipendium verbraucht.
Was geschah?
Der Leiter des Goethe-Instituts schickte mich auf das kleine bayerische Dorf, wo der Sprachkurs stattfinden sollte, Achenmühle. Da wurde ich in einer Pension untergebracht und mit Material versorgt, sodass ich zehn Tage bis zum Beginn des Kurses schon mal allein Deutsch lernen konnte. Alle waren sehr freundlich zu mir, und ich fahre dort immer noch gern hin. Aber ich weiß bis heute nicht, wer eigentlich die Kosten für diese zehn Tage bezahlt hat!
Der Deutschlandfan hatte also einen guten Start hier.
Ja. Ich wurde sehr freundlich empfangen.
Wie kamen Sie dann aus Oberbayern nach Berlin?
Mein Problem war: Ich habe in den Kursen zwar schnell Deutsch gelernt, aber draußen konnte ich mich mit niemandem verständigen. Als ich mich bei meiner Lehrerin darüber beschwert habe, hat sie mir erklärt, dass es ihr auch nicht anders geht.
Weil draußen bayerisch gesprochen wurde?
Genau. Ich habe dann in Hannover studiert, weil mir jemand gesagt hatte, dass dort Hochdeutsch gesprochen werde. Dort habe ich auch mein Diplom und meine ersten Arbeitserfahrungen als Ingenieur gemacht. Ich war als Statiker für den Bau von Häusern, Straßen und Brücken verantwortlich – die stehen heute alle noch!
Und Ihr Plan, nach dem Studium in die Türkei zurückzukehren?
Inzwischen hatte ich angefangen, mich für Migranten aus der Türkei zu engagieren, und in München schon 1965 einen der ersten Gastarbeitervereine mit gegründet, den „Verein für Arbeiter aus der Türkei“. Ich hatte viele Kontakte, war auch in der Gewerkschaft aktiv. Und hatte außerdem in Hannover meine Frau, eine Deutsche, kennengelernt. Darüber habe ich den Gedanken zurückzukehren irgendwie vergessen.
Und wann und wie kamen Sie nach Berlin?
Das war 1970. Meine Frau wollte unbedingt hier studieren. Ich habe dann hier auch noch ein Pädagogikstudium angefangen. Und war nebenbei Deutschlehrer für Ausländer an der Volkshochschule. Ab 1973 habe ich dann als Berufsschullehrer gearbeitet.
Und hier haben Sie nicht nur Migrantenvereine, sondern gleich eine Partei mitgegründet – die Alternative Liste, die späteren Grünen.
Ja, die trafen sich als Gruppe immer in den Räumen des Vereins, den wir damals hatten, in der Kreuzberger Böckhstraße. Und haben mich oft als Experten zu allen möglichen migrationspolitischen Themen eingeladen. Und als dann am 5. Oktober 1978 die AL hier gegründet wurde, war ich dabei. Und bin heute immer noch Grüner.
Warum die Grünen?
Mir gefiel ihre Offenheit, dass so viel diskutiert wurde. Basisdemokratie, Frauen- und Minderheitenrechte, ihre Position zu MigrantInnen, das fand ich alles nicht schlecht.
Solche politischen Haltungen und Überzeugungen – hatten Sie die schon aus der Türkei mitgebracht? Oder haben die sich erst hier entwickelt?
So klar haben die sich erst hier entwickelt. Aber mein politisches Bewusstsein wurde schon in der Türkei geweckt – übrigens auch durch einen Lehrer beziehungsweise eine Lehrerin.
Wie das?
Der Grund war eine Ohrfeige. Als ich in die Schule kam, konnte ich nur wenig Türkisch. Bei uns zu Hause wurde nur Kurdisch gesprochen, Kurmanci. Ich nannte die Lehrerin „Teyze“ – Tante, weil ich gehört hatte, dass türkische Kinder ältere Frauen so nannten. Man musste aber „Ögretmen“ (LehrerIn) sagen. Deswegen habe ich eine Ohrfeige bekommen. Als ich der Lehrerin erklären wollte, dass ich es eben nicht besser gewusst habe, weil ich kaum Türkisch, nur Kurdisch sprach, sagte sie, eine Sprache Kurdisch gebe es gar nicht. Das hat mich sehr gewundert und neugierig gemacht. Und den Grundstein gelegt, dass ich mich mit meinem Kurdischsein und der kurdischen Kultur beschäftigt habe.
Das klingt fast, als seien Sie für die Ohrfeige dankbar?
Böse bin ich der Lehrerin jedenfalls nicht. Sie wusste es wahrscheinlich einfach nicht besser, hat wiederholt, was ihr so beigebracht wurde. Es ist nicht mal ausgeschlossen, dass sie selbst Kurdin war.
Sie sind in Mittelanatolien, nicht im kurdischen Teil der Türkei, aufgewachsen, wo die türkische Armee permanent präsent ist. Das Bewusstsein, als Kurde benachteiligt zu sein, war aber auch dort vorhanden?
Meine Eltern waren Analphabeten, mein Vater war ein einfacher Bauer. Bei uns zu Hause wurde nur Kurdisch gesprochen, mein Vater hatte beim Wehrdienst beim türkischen Militär etwas Türkisch gelernt. Für mich war das Alltag, erst als ich in die Grundschule kam, habe ich bemerkt, was es heißt, in der Türkei kurdisch zu sein. Die Ohrfeige war im Grunde der Anfang meiner politischen Karriere. Ich fragte mich, warum ich sie bekommen hatte – ich hatte doch gar nichts gemacht.
In Deutschland haben Sie zuerst in Vereinen gearbeitet, die für alle Migranten aus der Türkei offen sind. Später aber auch in kurdischen Vereinen.
Das mache ich immer noch so. Ich bin Ehrenvorsitzender der Kurdischen Gemeinde – und Mitbegründer des Türkischen Elternvereins. Es gab anfangs nicht viele Vereine. Da waren alle drin, sowohl Kurden als auch Türken. Ich habe das auch nie getrennt, und es war nicht mein Wunsch, dass sich das spaltet.
Warum kam es dann trotzdem dazu?
Es gab anfangs zwei große Föderationen türkischer Migranten auf der linken und sozialdemokratischen Seite. Beide wurden 1977 gegründet. Wir als Kurden haben immer mit denen verhandelt und zusammengearbeitet. Aber das wollten die so nicht akzeptieren.
Die wollten, dass die Kurden bei ihnen Mitglied werden?
Ja, und dann nicht davon reden, dass sie Kurden sind. Das war verboten. Da standen die Föderationen auch unter politischem Druck aus der Türkei. Aber wir wollten das nicht akzeptieren. 1979 wurde dann der Dachverband kurdischer Vereine Komkar gegründet …
… der immer Distanz zur PKK gehalten hat.
Ja. Wir haben ja eigentlich die gleichen politischen Ziele vertreten wie die türkischen Dachverbände.
Wie soll man sich das vorstellen?
Wir sind zum Beispiel alle dafür eingetreten, dass es muttersprachlichen Unterricht für Einwandererkinder in Deutschland geben soll. Für uns hieß das natürlich auch Kurdischunterricht. Davon wollten die anderen aber nichts hören. Ich war immer dafür, dass wir unsere Ziele hier gemeinsam verfolgen. Wir leben hier und haben gemeinsame Probleme. Die muss man auch gemeinsam lösen.
Sie haben ein halbes Jahrhundert lang die Politik verfolgt, die erst Ausländer-, dann Migrations-, dann Integrationspolitik hieß und jetzt Partizipationspolitik genannt wird. Wie zufrieden sind Sie?
Man muss nicht wiederholen, dass Deutschland es jahrzehntelang verschlafen hat, ein Einwanderungsland zu sein – und auch die Einwanderer nicht kapiert haben, dass sie Einwanderer und keine Gastarbeiter sind, die wieder heimkehren. Die Namenswechsel der Politik bringen aber allein keinen Erfolg.
Was meinen Sie damit?
Migration ist ein Mehrgenerationenprozess. Für mich sind Integration und Partizipation zwei aufeinanderfolgende Phasen dieses Prozesses. Man kann nicht das eine durch das andere ersetzen, so wie manche Politiker es heute tun. Die haben nicht verstanden, worum es geht. Integration ist eine Sache von Generationen mit vielen verschiedenen Phasen. Sie beginnt mit dem Deutschlernen und der Akzeptanz, seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland zu haben. Partizipation, also Teilhabe an der Gesellschaft, ist ein Teil davon, gehört dazu. Wir sind jetzt in dieser Phase, dass viele Einwanderer sagen, sie wollen sich einmischen, mitentscheiden, diese Gesellschaft mit gestalten. Das ist gut, denn so muss es sein. Nur das führt zu Chancengleichheit.
Sie wurden 1995, 22 Jahre nach Ihrer Ankunft in Deutschland und 17 Jahre nach Gründung der AL, ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt. Warum haben Sie mit dieser Form politischer Beteiligung so lange gewartet?
Das war nicht mein erstes Mandat – ich war davor schon in der Bezirksverordnetenversammlung von damals noch Nur-Kreuzberg. Noch früher konnte ich nicht einsteigen, weil ich die deutsche Staatsbürgerschaft nicht hatte. Das war auch eine bewusste politische Entscheidung: Ich wollte nicht Deutscher werden müssen, um wählen zu können, sondern lieber für das kommunale Wahlrecht für Ausländer kämpfen. Dafür bin ich immer noch.
Warum dann doch irgendwann der deutsche Pass?
Ich war es leid, mir, wenn ich den türkischen Pass verlängern lassen wollte, im Konsulat der Türkei die immer gleichen Sachen anzuhören: Du bist doch ein so anständiger und fleißiger Mensch, was soll das denn immer mit dem Kurdischen. Davon hat man irgendwann die Nase voll. Also wurde ich Anfang der neunziger Jahre Deutscher. Meine Einbürgerung war übrigens mit einigen Schwierigkeiten verbunden.
Warum das? Wo Sie doch ein so engagierter Bürger waren!
Genau deshalb. Heute fordern alle die gesellschaftliche Beteiligung und betonen die Bedeutung von Migrantenselbstorganisationen. Damals wurde mir die Staatsbürgerschaft zunächst verweigert, weil mein Engagement in solchen Vereinen als Beleg dafür gewertet wurde, dass ich mich nicht in die deutsche Gesellschaft integrieren will.
Das haben Sie dann aber: als der erste direkt gewählte Abgeordnete der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus.
Da habe ich es aber nur vier Jahre ausgehalten. In der Bezirksverordnetenversammlung Kreuzberg, später Friedrichshain-Kreuzberg, war ich insgesamt zwölf Jahre lang …
… davon eine Wahlperiode als Vorsteher.
Ja. Das liegt mir mehr, die lokale Politik, wo ich direkt mit den Leuten reden kann. Ich wollte immer möglichst direkt mitmischen. Und in allen politischen Bereichen mitreden können. Ich habe immer lieber für das Gemeinwohl gekämpft als für Wählerstimmen. Dafür muss man verstehen, worum es geht, mit Leuten reden. Ich gehe auch jetzt noch jeden Tag raus und rede mit Leuten. Das brauche ich! Und so habe ich jeden Tag eine neue Idee für eine politische Aktion.
Jetzt sind Sie 71 Jahre alt und seit 50 Jahren in Deutschland: Was wünschen Sie sich zu diesen Jubiläen?
Gesundheit. Mehr nicht.
Sind Sie nach diesen 50 Jahren immer noch Deutschlandfan?
Ja klar! Ich finde immer wieder etwas Schönes hier, und ich glaube nicht, dass ich in der Türkei so viel Schönes erlebt hätte, wie ich hier erlebt habe. Ich habe hier geistige und körperliche Bewegungsfreiheit, kann frei darüber nachdenken, was man besser machen kann, frei mit Leuten darüber diskutieren. Diese Möglichkeit zu haben ist riesig wichtig. Ein gutes Leben heißt, das Beste aus den Möglichkeiten zu machen, die man hat. Und das kann ich hier.