: Urteil zum Fall Srebrenica
GENOZID Niederländisches Gericht macht Regierung in Den Haag mitverantwortlich für die Ermordung von 300 muslimischen Bewohnern der ehemaligen UN-Schutzzone
VON ANDREAS ZUMACH
GENF taz | Ein Gericht in Den Haag hat den Niederlanden eine Mitverantwortung für den Tod von 300 der mehr als 8.000 muslimischen Opfer des Massakers im bosnischen Srebrenica im Juli 1995 zugewiesen. Die 300 muslimischen Männer und Jungen hatten auf der Flucht vor den Truppen des bosnisch-serbischen Generals Ratko Mladic zunächst Aufnahme in einem Militärcamp des niederländischen Blauhelmbatallions gefunden, das die UN-Schutztruppe für Srebrenica bildete. Doch angesichts der Überlegenheit der bosnisch-serbischen Truppen und nachdem Mladic dem niederländischen Batallionskommandeur Tom Kerremans und weiteren niederländischen Soldaten mit Ermordung gedroht hatte, lieferte die UN-Schutztruppe die 300 muslimischen Flüchtlinge an die serbischen Angreifer aus.
„Das niederländische Bataillon hätte die Möglichkeit in Betracht ziehen müssen, dass diese Menschen Opfer eines Völkermordes würden“, erklärte das Gericht. Es könne mit ausreichender Sicherheit festgestellt werden, dass diese Menschen überlebt hätten, wenn man ihnen erlaubt hätte, in dem niederländischen Militärcamp zu bleiben. Das Gericht verneinte allerdings eine generelle Verantwortung der niederländischen UN-Soldaten für den Tod aller 8.000 Opfer des Völkermordverbrechens.
Mit dem Urteil dürften viele Schadenersatzklagen auf die niederländische Regierung zukommen. Bereits im September letzten Jahres hatte ein anderes niederländisches Gericht auf Klage der Hinterbliebenen von drei in Srebrenica ermordeten Muslimen die Regierung in Den Haag zur Zahlung von Schadensersatz verurteilt. Mit einer Klage gegen die UN vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof waren Angehörige von Opfern 2013 gescheitert. Daher herrscht große Genugtuung unter den Angehörigen über die beiden Urteile der niederländischen Gerichte.
Allerdings gehen diese Urteile völlig an den Realitäten vorbei, die im Juli 1995 in Srebrenica herrschten. Auch befassten sich die Gerichte nicht mit der Rolle wesentlicher Akteure im Bosnienkonflikt, die die politische Hauptverantwortung für das Massaker tragen. Die 300 niederländischen Blauhelme hatten keine Chance, die UN-Schutzzone gegen die 12.000 mit Panzern, Geschützen und anderen schweren Waffen ausgerüsteten serbischen Angreifer zu verteidigen. Entsprechend einer Vereinbarung zwischen UNO und Nato vom Februar 1993 forderte der niederländische Kommandeur sieben Tage Luftunterstützung der Nato an. Vergeblich.
Die taz veröffentlichte im Herbst 1995 Recherchen, wonach die Geheimdienste der USA, Frankreichs und Deutschlands Wochen vor Beginn der serbischen Angriffe auf Srebrenica am 5. Juli über die Vorbereitungen zur Eroberung der Enklave informiert waren. Quelle waren auch zwei US-Geheimdienstler, die seit Juni die Telefonate und den Funkverkehr zwischen dem bosnisch-serbischen General Mladic und dem Generalstabschef der serbischen Streitkräfte in Belgrad abgehört hatten.
Doch Washington, Paris und Bonn handelten nicht. Denn die Eroberung Srebrenicas sowie von Zepa und Gorazde – den anderen muslimischen Enklaven in Ostbosnien – war ein abgekartetes Spiel, das der damalige Balkan-Chefunterhändler der USA, Richard Holbrooke und Serbiens Präsident Slobodan Milosevic im September 1994 in Belgrad verabredet hatten. Nur nach der Vertreibung der rund 220.000 Muslime aus Srebrenica, Gorazde und Zepa wurde das „Friedensabkommen“ von Dayton vom Dezember 1995 möglich, mit dem Bosnien-Herzegowina in zwei ethnisch weitgehend „homogene“ Entitäten geteilt wurde.