: Die große Bitterkeit
SCHLAGLOCH VON SARAH ELTANTAWI Die Massenproteste, ob in Ägypten oder den USA, haben nichts gebracht
■ Assistenzprofessorin für Vergleichende Religionswissenschaften am Evergreen State College im US-Staat Washington. In Berlin setzte sie ihre Forschung im Forum „Transregionale Studien“ fort. Ein Teil ihrer Familie lebt in Kairo.
Wir haben den Tahrirplatz zu früh verlassen. Wir waren begeistert von dem großen Theater und voller Zuversicht, dass die Momente wunderschöner Anarchie, der in der ganzen Welt verstanden wurden, ausreichen würden, um den Wechsel herbeizuführen. Spätestens seit dem Freispruch von Expräsident Mubarak wissen wir, es war nicht genug.
Auf einem anderen Kontinent wird laut USA Today im Durchschnitt zweimal pro Woche ein unbewaffnetes afroamerikanisches Kind auf offener Straße exekutiert. Videoaufnahmen zeigen Jungen, die in heller Aufregung schreien: „Ich habe keine Waffe. Nicht schießen!!“, und nur Sekunden später erschossen werden. Nach den letzten Schüssen auf Michael Brown durch den Polizisten Darren Wilson in Ferguson, Missouri kam es zu Ausschreitungen und Protesten, so groß wie seit Occupy und den Millionen Demonstrationen gegen den Irakkrieg nicht mehr.
Migrationshintergrund als Falle
Ich will verzweifeln, denn keine dieser großen Gesten hat zu einer positiven Veränderung geführt. Der Krieg gegen den Irak ging weiter, die Schäden waren sogar noch massiver als erwartet. Vierzehn weitere Teenager wurden seit Michael Braun erschossen, und letzte Woche wurde Mubarak, der Ägypten völlig ruiniert und alle Ressourcen des Landes gestohlen hat, von allen Vorwürfen freigesprochen. Und seine Geschichte ist noch nicht zu Ende. Doch wie sie weitergeht, lässt sich noch nicht sagen.
Ja, es fällt mir schwer, nicht zu verzweifeln. Ich muss an die Hunderte Gespräche denken, die ich in den letzten vier Jahren im Zuge und über die Arabellion geführt habe. Als Wissenschaftlerin bin ich gut in der Analyse, aber nicht unbedingt im Auftun von Lösungen. Und manchmal verwechseln ich und meine KollegInnen auch Kritik mit Aktion.
Wir Akademiker, insbesondere wenn unsere Familien aus dem Nahen Osten stammen, sind traumatisiert von den Jahren schrecklicher Nachrichten aus unseren Ländern und der hartnäckigen, oft rassistischen Kritik aus dem Westen. Oft waren wir daher unsicher, wie wir die entschieden postkoloniale Politik der Arabellion richtig dechiffrieren sollten.
Irgendwann fiel auf, dass die linken Freunde mit iranischem Hintergrund vor robuster Kritik am Assad-Regime zurückschreckten und dazu neigten, die von den salafistischen Gotteskriegern ausgehende Gefahr überzubetonen (das war zu Anfang des Krieges, als es noch Hoffnung gab, dass Assad als der eigentliche Destabilisator und die russischen und iranischen Waffenlieferungen als Problem erkannt würden).
Wir, die wir an wilde orientalistischen Diskussionen und die westliche Politik gegenüber dem Nahen Osten gewöhnt sind, konnten nicht akzeptieren, dass wir es mit den verfaulten Früchten der Unabhängigkeit zu tun haben. Viele von uns attackierten sich überdies gegenseitig, um die jeweilige regionale Überlegenheit zu betonen.
Ideologische Verbrämung
Zudem: Waren wir nicht antiimperialistische Linke? Doch wenn nur die USA imperialistisch handeln, was ist dann mit Iran und Russland? Immerhin versorgen sie Assad mit Tonnen von Waffen, die dieser täglich einsetzt, um syrische Zivilisten zu töten, und dabei auch auf ihre diplomatische Unterstützung rechnen kann. Ist Imperialismus überhaupt der Feind? Wachen wir jetzt langsam auf? Syrien immerhin ist mittlerweile zerstört.
Dann gab es auch die Freunde mit einem Herz für den politischen Islam. Sie verteidigten die Muslimbrüder und ignorierten hartnäckig, dass diese selbst ihre Popularität verspielt haben. Denn für sie gab es nur eine Erklärung: Die Islamisten sind Opfer. Punkt. Schließlich waren da noch die Anhänger des alten Regimes, die die Revolution in erster Linie benutzten, um die Armee zu rehabilitieren und die Demonstrierenden bei jeder Gelegenheit zu denunzieren. Vorgeblich waren sie in Sorge um das Land, in Wahrheit aber wohl vor allem um ihren Geldbeutel und Status quo.
Wie durch den Sumpf kommen?
Auch ich kann meine Hände nicht in Unschuld waschen. Während des Mursi-Regimes habe ich an amerikanischen Eliteuniversitäten immer wieder betont, dass Bewegungen des politischen Islam nicht generalisiert werden können, sondern auf unterschiedlichen Ideologien basieren, und nicht alle Katzen grau sind. Die Leitsprüche: Islamische Demokratie ist real, vielversprechend und kann funktionieren. Die Wahlurne ist die wichtigste Maßeinheit der Demokratie.
Und Mursi ist gewählt worden. Doch als sich herausstellte, dass ihn nur andere Islamisten und weder das Land noch Säkulare im Geringsten interessierten, war Ägypten kurz davor zu explodieren. Nicht dass die Theorien alle falsch waren – aber sie mussten sich noch nie an der Realität beweisen. Heute ist meine ohnehin tief verwurzelte Achtung vor der Realpolitik noch größer geworden.
Schließlich kam es im Juni 2013 zum von der Mehrheit der Ägypter unterstützten Militärputsch. So viele waren der Überzeugung, nur die Wahl zwischen Islamisten und Militärs zu haben. Im Ausland begannen Beobachter die Ägypter als „dumm“, „faschistisch“ oder „liberal“ (das war noch am lustigsten) zu beschreiben. Das war sehr arrogant. Denn Millionen von Ägyptern kämpften darum, eine vernünftige Erklärung für die Ereignisse zu finden. Aber auch methodisch und intellektuell war unser Zugang ärgerlich. Wir wurden zu Ideologen.
Was wird nun aus Ägypten, Syrien, die unbewaffneten schwarzen Männer in den USA?
Gibt es Lösungen, die ohne theatralische große Gesten auskommen? Bei denen die Leute einfach nach Hause gehen können? Lösungen, die keine Ideologie brauchen, die sich ja als falsch erwiesen hat, zum Beispiel dass wir alle Neomarxisten, Islamisten, Demokraten sein müssen? Und die dazu beitrug, dass wir die Schwächen der Wahlurnen-Demokratien nicht ausreichend bedacht haben? Welche Methode bringt uns durch den Sumpf?
In der Asche der bitteren Enttäuschung werde ich in den nächsten Wochen versuchen, kleine, bescheidene Schritte ausfindig zu machen.