: Das Leben nach dem Tod der Popliteratur
INSZENIERUNGEN Jungschnösel! Niemand wurde so zerprügelt wie Benjamin von Stuckrad-Barre. Wie brillant er als Kulturjournalist ist, kann man an seinem neuen Buch sehen. Ein Spaziergang
■ Das neue Buch von Benjamin von Stuckrad-Barre heißt „Auch Deutsche unter den Opfern“, Kiepenheuer & Witsch, 336 Seiten, 14,95 Euro. Es ist eine Fortsetzung seines bisher besten Buchs „Deutsches Theater“ (2001) und enthält Reportagen, Porträts, Feuilletons.
■ Wiebke Porombka geht gelegentlich für die taz um den Berliner Schlachtensee spazieren, zuletzt mit den Autoren Lutz Seiler (taz vom 30. 11. 2009) und David Wagner (taz vom 2. 7. 2009).
VON WIEBKE POROMBKA
Dass er eine sehr bunte Jacke tragen würde, hatte Benjamin von Stuckrad-Barre angekündigt. Die Jacke, in der er die verschneite Wiese zum Ufer des Schlachtensees herunterkommt, ist dann aber noch mehr als das. Sie ist auf geradezu blödsinnige Weise bunt. Ein bisschen sieht sie aus wie das alte Fernsehtestbild. Nur großformatiger sind ihre gesteppten Farbflächen, und man kann kaum anders, als sie symbolisch zu finden.
Nicht weil Stuckrad-Barre nach seinem Debütroman „Soloalbum“ 1998 innerhalb kürzester Zeit vom Jungautor zu einer Medienfigur aufstieg – mit Auftritten bei Harald Schmidt und eigener Literaturshow auf MTV –, um dann genauso schnell zu einer der meistgeschmähten Figuren im Literaturbetrieb zu werden; sondern viel eher deshalb, weil man inmitten der auf der großen Eisfläche des zugefrorenen Schlachtensees spazierenden Familien plötzlich erstaunt bemerkt, dass er auch eigentümlich altmodische Züge an sich hat. In etwa so altmodisch wie das Testbild.
Der Trubel um Stuckrad-Barre ist schon einige Zeit vorbei, zwischenzeitlich hat er ein paar Jahre in der Schweiz gelebt, in einer Art Exil. Das war nötig, um aus der, wie er es nennt, selbst angezettelten Schusslinie zu flüchten. 2006 ist er doch wieder nach Berlin gekommen, seit 2008 schreibt er für den Springer Verlag, hauptsächlich Reportagen für die Welt, die B.Z. oder den Rolling Stone. Am Kranzler-Eck, mittendrin im alten Westberlin, hat er sein Büro. „Das ist ein Ort, wo man ja heute eigentlich gar nicht mehr hinkommt“, sagt Stuckrad-Barre. „Wenn draußen diese Doppeldeckerbusse vorbeischaukeln, das könnten genauso gut die Siebzigerjahre sein.“ Wenn auch nicht mehr Exil, so hört sich das zumindest nach Nische an. Er wollte unbedingt den Redaktionsalltag haben, die Diskussion über Themen, die Hektik vor Redaktionsschluss.
Auch als Struktur für sein Leben sei der Redaktionsalltag wichtig, sagt Stuckrad-Barre dann noch. Aus solchen Sätzen ist immer wieder herauszuhören, dass er ziemlich zerprügelt worden ist in der Vergangenheit. Von den Anfeindungen, die sich zumeist mehr an ihm als an seinen Texten entladen haben. Die Drogen haben auch nicht geholfen. Kurz erzählt Stuckrad-Barre über sein Praktikum bei der taz Mitte der Neunzigerjahre. „Damals, vor dem Krieg“, sagt er und lacht ein wenig verrutscht.
„Vor ein paar Jahren“, sagt er, „konnte es gar nicht schnell genug gehen, immer sofort ein neues Projekt, ein neues Buch, eine Lesereise, oder am besten alles gleichzeitig.“ Jetzt, mit gerade mal 35, spricht er lieber davon, sich für eine gewisse Zeit auf Montage zu begeben, auch wieder so ein altmodisches Wort. Auf Montage in der Wirklichkeit, könnte man dieses Langzeitprojekt nennen. „Ich laufe einfach gern mit bei Leuten und gucke, was die so machen.“
Stuckrad-Barre schlenkert mit einem dunkelgrünen Mittelding aus Tasche und Beutel, das er mit sich herumträgt und so aussieht, als würde Opa sein Altglas damit wegbringen. „Oder ich gehe zu einer dieser zahllosen Veranstaltungen, die es jeden Tag gibt, wo irgendein neues Produkt oder Programm vorgestellt wird oder eine neue Freundschaft oder eine alte Feindschaft aufgeführt wird – wo also Bilder in die Welt geschickt werden, da bin ich gern zugegen. Kann gar nicht abseitig genug sein.“
Was ihn interessiert, seien nicht die Geschichten, die die Leute erzählen wollten, sondern die Ränder dieser Geschichten. Die Momente, in denen die Inszenierung bricht. Auf einer Pressekonferenz der SPD also sich nicht das Podium anschauen, sondern lieber am Parkplatz herumlungern und gucken, wie Sigmar Gabriel aus dem Auto steigt, noch mal einen Blick in seine Tasche wirft und fragt, wo denn schon wieder die Scheißhustenbonbons sind. Stuckrad-Barre spricht viel langsamer, als man es in Erinnerung hatte, manchmal geradezu suchend. Vielleicht liegt das aber auch nur daran, dass er während des Sprechens den unzähligen Schlitten fahrenden und Schlittschuh laufenden Kindern zuschaut. Was er erzählt, klingt eigenartig bescheiden. Fast könnte man es für ausgestellt halten.
Ein knallguter Witz
Wenn man aber sein neues Buch liest, für das er Texte der letzten Jahre zusammengestellt hat, merkt man, dass Stuckrad-Barre nicht nur einen genauen, sondern einen emphatischen Blick für die Dinge und Menschen um sich herum hat. So einen Blick hat man nur, wenn man sich wirklich interessiert. Treffen mit Politikern sind unter diesen Texten, ein Fernsehabend mit Dieter Hildebrandt oder auch ein Porträt von Udo Lindenberg, dazu Abende auf der Fanmeile, die Eröffnung eines Elektronikmarkts oder aber einfach Spaziergänge durch Berlin.
In diesen Texten zeigt sich nicht nur Stuckrad-Barres Blick für die Details und die Ränder. Es gibt in ihnen auch einen Witz, der knallgut zwischen Ironie und Kalauer eingetaktet ist – was immer wieder dazu führt, dass die Texte eine wunderschön melancholische Doppelbödigkeit bekommen. Joseph Roth war auch so ein Berliner Spaziergänger, ein Beobachter seiner Zeit und ihrer geistigen Verfasstheit, ein brillanter Stilist und sprühender Ironiker. Man sollte die Texte mal nebeneinanderlegen.
Stuckrad-Barre schlägt vor, vom Rand des Sees wegzugehen, wo unter den Bäumen das Eis matschiger und brüchiger wird als in der Mitte, wo die Sonne aus fast schon unverschämt blauem Himmel draufscheint. „Man muss sich selbst als Lackmuspapier sehen, sich reinwerfen in die Welt und gucken, was sich verändert und was hängen bleibt. Und das dann Text werden lassen.“ Nur macht er diese Experimente jetzt, anders als früher, auf eine kontrollierbarere, überschaubarere Weise. Und auch auf eine Weise, die nicht mehr als so provokant wahrgenommen wird.
In dem neuen Buch gibt es einen Bericht über eine Lesung von Günter Grass, der viel über Stuckrad-Barre selbst erzählt. Grass stellt sein Wende-Tagebuch vor und zelebriert sich als politisch engagierter Intellektueller. Die Zuhörer nicken beflissen, was Stuckrad-Barre ärgert. Er meldet sich zu Wort, will mit Grass über den von ihm verehrten Kempowski diskutieren, wird abgebügelt, meldet sich noch mal, fängt wieder mit Kempowski an und stellt sich am Ende tatsächlich noch bei der Signierstunde in die Reihe. Das ist nervend, und er weiß das. Irgendwie ist es auch peinlich, aber es hat etwas Authentisches.
Grass reagiert auf die Störungen mit gönnerhafter Herablassung. Das Antiintellektuelle an den Reaktionen auf das, was in den späten Neunzigern als Popliteratur gefasst wurde, sei ja auffällig gewesen, sagt Stuckrad-Barre. Er klingt immer noch verwundert darüber, dass das damals keiner als Experiment begriffen habe. Dass da junge Leute waren, die angegriffen, etwas ausprobiert haben, die dem seidenbeschalten Literaturbetrieb etwas entgegensetzen wollten. Das inszenatorische Moment von „Tristesse Royal“ etwa. „Wenn ich mir heute Bilder davon anschaue“, sagt Stuckrad-Barre, „sind das doch Comics.“ Das hat keiner gemerkt, alle waren ungeheuer empört über die blasierten Jungschnösel. Wenn er vorher gewusst hätte, wie ihn das treffen würde, „volley“ nämlich, dann hätte er es nicht gemacht. Aber er sei ganz froh darüber, dass er es nicht gewusst hat.
Vermutlich ist die gepuffte Winterjacke nicht nur aus dem schicken Adidas-Store in Berlin-Mitte, sondern auch einfach warm. Viel symbolischer ist ohnehin Stuckrad-Barre selbst: für den Wandel, den der Literaturbetrieb in den Neunzigerjahren gemacht hat. Wenn man von heute aus noch mal die Wut anschaut, die er damals ausgelöst hat, dann erschrickt man ein bisschen. Schaut man sich dagegen an, wie hinter allen Plagiatsvorwürfen doch interessiert das Feuilleton gerade auf die Coming-of-Age-Autorin unserer Tage, Helene Hegemann, reagiert, dann sollte klar werden, dass das ohne jemanden wie Stuckrad-Barre kaum möglich wäre.
Verlust von Hochkultur
Das kann, wer meint, immer noch unter Verlust von Hochkultur bilanzieren. Schlauer indes wäre (und schlauer auch, als weiterhin darüber zu streiten, ob Stuckrad-Barre vielleicht nicht doch in Wirklichkeit ein selbstherrlicher Schnösel gewesen ist): seine Texte lesen. Es gibt im Augenblick nur wenige so brillante Kulturjournalisten wie ihn. Auf dem Weg zurück zur S-Bahn zündet sich Stuckrad-Barre eine letzte Mentholzigarette an. Sie riecht wie die Erkältungssalbe, mit der man als Kind eingerieben wurde, und tröstet über die verflucht kalten Füße hinweg.