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Archiv-Artikel

Lovely, lovely Lena

LENA MEYER-LANDRUT ist eine moderne junge Frau: cool, natürlich – und mit Spaß an der Sache. Mit dieser Art und einem grandiosen Auftritt konnte sie Europa überzeugen. Ihr Erfolg ist auch einer der ARD und von Stefan Raab

Lena, 246 Points

Das Ergebnis von Oslo: 1. Deutschland: Lena, „Satellite“, 246 Punkte 2. Türkei: Manga, „We could be the same“, 170 3. Rumänien: Paula & Ovi, „Playing with Fire“, 162 4. Dänemark: Chanée & N’evergreen, „In a Moment like this“, 149 5. Aserbaidschan: Safura, „Drip Drop“, 145 6. Belgien: Tom Dice, „Me and my Guitar“, 143 7. Armenien: Eva Rivas, „Apricot Stone“, 141 8. Griechenland: Giorgos Alkaios & Friends, „Opa“, 140 9. Georgien: Sofia Nizharadze, „Shine“, 136 10. Ukraine: Aljoscha, „Sweet People“, 108 11. Russland: Peter Nalitch Band, „Lost and Forgotten“, 90 12. Frankreich: Jessy Matador, „Allez! Ola! Olé!“, 82 13. Serbien: Milan Stankovic, „Ovo je Balkan“, 72 14. Israel: Harel Skaat, „Milim“, 71 15. Spanien: Daniel Diges, „Algo pequenito“, 68 16. Albanien: Julian Pasha, „It’s all about You“, 62 17. Bosnien: Vukasin Brajic, „Thunder and Lightning“, 51 18. Portugal: Filipa Azevedo, „Há dias assim“, 43 19. Island: Hera Björk, „Je ne sais quoi“, 41 20. Norwegen: Didrik Solli-Tangen, „My Heart is yours“, 35 21. Zypern: Jon Lilygreen, „Life looks better in Spring“, 27 22. Moldau: Sunstroke Project & Olia Tira, „Run away“, 27 23. Irland: Niamh Kavanagh, „It’s for you“, 25 24. Weißrussland: 3+2, „Butterflies“, 18 25. Großbritannien: Josh Dubovie, „That sounds good to me“, 10

Punkte für Lena: Neunmal bekam die deutsche Teilnehmerin die maximale Zahl von 12 Punkten, und zwar aus Dänemark, Estland, Finnland, Spanien, der Slowakei, Lettland, Norwegen, der Schweiz und Schweden. Die zweitbeste Note von 10 Punkten gab es aus Albanien, der Türkei, Slowenien, Litauen und Belgien. Keinen einzigen Punkt bekam Lena aus Armenien, Georgien, Moldawien, Weißrussland und Israel. (dpa, taz)

Der Verlierer des Abends: Josh Dubovie lachte auf der Aftershow-Party im SAS Radisson Plaza Hotel. Ihm schien die Niederlage nichts auszumachen. Und möglicherweise war das genau das Problem seines seltsam leeren Auftritts: die Aura von Desinteresse und Stimmarmut – Ramsch, der nicht dadurch besser wurde, dass er von Stock & Aitken produziert worden war, in den Achtzigern eine der Popfabriken des Landes überhaupt, die Rick Astley oder Kylie Minogue berühmt machten. Dass Großbritannien so schlecht abschnitt, liegt wohl an einem Dauertrend auf der Insel: Seit den Tagen von Cliff Richard, Sandie Shaw und Bucks Fizz gilt der Eurovision Song Contest als schwule Freakshow – und wurde entsprechend von Kommentator Terry Wogan in der BBC behandelt. Man nahm die Chose nur noch witzig und verdeckte die eigene Einfallslosigkeit beim Kreieren von für Europa akzeptable Tonspuren. Immerhin könnte der letzte Platz von Oslo, so wird aus BBC-Kreisen kolportiert, im nächsten Jahr dazu führen, dass man ein ähnliches, ernst zu nehmendes, nicht mehr nur ironisch-besserwisserisches Castingverfahren wie in Deutschland etabliert. (jaf)

AUS OSLO JAN FEDDERSEN

Auch Hierarchen können sich berühren lassen. Und Lena Meyer-Landrut hat ihre Tränen und ihre Begeisterung provoziert. Thomas Schreiber, Unterhaltungschef der ARD, aber auch ProSieben-Entertainer Stefan Raab hatten Wasser in den Augen, als diese ihre Kandidatin immer wieder Punkte zugepurzelt bekam. Die junge Frau aus Hannover, die sich im Herbst vergangenen Jahres auf eigene Faust bei Stefan Raabs Firma meldete, weil sie sich am Casting „Unser Star für Oslo“ beteiligen wollte, hat in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag den 55. Eurovision Song Contest mit dem Lied „Satellite“ gewonnen.

Sie bekam von neun Ländern die höchste Punktzahl und, von wenigen Ausnahmen wie Israel und Weißrussland abgesehen, aus allen Ländern Punkte gutgeschrieben. Das mag damit zu tun haben, dass sie, die kecke Abiturientin, die, so Raab, ein „schönes, neues Frauenbild aus Deutschland verkörpert“, von der Bühne aus das Publikum in der Telenor-Arena vor den Toren bezauberte. Sie lächelte, sie sang so gut wie während der ganzen Probenwoche nicht, sie genoss sich selbst. Und sie hatte erkennbar ihren Spaß in eigener Sache. Viele ihrer KonkurrentInnen hatten an diesem Abend urplötzlich an nervösen Stimmen gelitten, verfehlten Töne – ProbenkönigInnen, aber in den drei Minuten, in denen es drauf ankommt, gestrauchelt über die Erwartungen ihrer Angehörigen.

Lena Meyer-Landrut hingegen, verblüffend, aber wahr, schien unter der Last des Hypes, der in Deutschland, inzwischen auch in anderen Ländern Europas um sie herum zelebriert ward, erst aufzublühen. Jeden Tag, so durfte beobachtet werden, schlüpfte sie stärker in eine Lust auf die Performance hinein. So sah sie denn auch als Startnummer 22 aus: a German girl who rocks the music.

Es ist der zweite Sieg für Deutschland in der seit 1956 währenden Geschichte der Eurovision. Der erste Sieg, 1982 durch die Saarländerin Nicole errungen, lag lange genug auf dem deutschen Popgemüt wie eine Grabplatte des Unfriedens. „Ein bisschen Frieden“ wurde von der zunehmend zur Minorität werdenden Szene der Sentimentalitässchlagerfreunde als Beweis dafür hergenommen, dass man den Komponisten Ralph Siegel, überhaupt solche Schlagerlein brauche, um Deutschland als Kulturnation zu behaupten. Der Schatten der Siegel’schen Vergangenheit wurde nun kräftig verscheucht; Lena Meyer-Landrut ist, wie es ein britischer Journalist von der BBC formuliert, „a modern German Girl, walking in the wonderland of pop“. Lena im Wunderland – von dieser Rolle ließ sich Europa verführen.

Die Begeisterung über den Sieg hielt sich keineswegs in Grenzen. Aus Städten wie Berlin, Frankfurt am Main, Hamburg und Hannover wurden Autohupkonzerte gemeldet, in den Bars und Kneipen, in denen zum Public Viewing geladen war, schien die Stimmung nach Mitternacht zu perlen. Und die kühlen Norweger? In der Halle selbst wurde die Deutsche während ihres Siegesvortrags von „Lovely Lena, Lena lovely“-Chören begleitet, während die Chanteuse dauernd ihren Text änderte und, beispielsweise, „Das ist verrückt, verrückt, Wahnsinn, verrückt“ rappte.

Offensichtlich hat Raabs Rezept funktioniert: Mit einer internationalen Nummer als Deutsche, als coole Deutsche an den Start zu gehen, sich auf das Schlichte zu konzentrieren und Freude am Auftritt zu verströmen. In den Medien, von Frankreich über Großbritannien, Norwegen und Lettland bis zu Slowenien, Serbien oder der Türkei, wurde sie von der ersten Probenwoche als Favoritin gehandelt – sie hat, entsprechend den Sympathien, die sie einheimste, die allermeisten 12-Punkte-Wertungen erhalten (siehe Spalte).

Lena Meyer-Landrut: sie fliegt als Star nach Hause, ein international fähiger Star, der Wörter wie „natürlich“ und „authentisch“ salonfähig macht. Sie ist wohl vor allem eigensinnig, selbst im Moment des Sieges. Sie sagte: „Ich freue mich über den Sieg, ich bin geschockt, es ist passiert, ich weiß nicht, was los ist. Aber siegen ist nicht alles im Leben.“ Raab sekundierte später: „Sie wird vom Hype herunterkommen“, von der Aufwallung, die so ein Wettbewerb eben stifte. „Aber sie wird das können, das Leben geht ja gut weiter.“

In medialer Hinsicht war dieser Eurovision Song Contest ein fulminanter Erfolg. Nicht allein das Konzept, dass ARD und ProSieben alliieren, dass das Erste die Lizenz für diese Show beisteuert und Raab seine Kredibilität, hat beiden Sendern, die jeweils eine Hälfte der Castingshow ausstrahlten, gutgetan. Der Eurovision Song Contest trug der ARD eine Quote ein, die sie seit Einführung der Messungen nicht mehr erzielte für eine Unterhaltungssendung. 14,69 Millionen Menschen schauten zu, in der Spitze, vor allem während der Wertungen, lag die Zahl gar bei knapp 20 Millionen. Im Segment des jüngeren Publikums jenseits der Kukidentsphäre betrug die Quote für die ARD spektakuläre 61,2 Prozent. Da konnte weder die Fußballnationalmannschaft im ZDF noch Boxweltmeister Vitali Klitschko bei RTL mithalten.

Wie sagte Stefan Raab: „Wenn ein Land gewinnt, hauen sich die Menschen Furchen in die Schenkel. Das ist nicht zu toppen, das ist Entertainment, wie es vergleichbares nicht gibt.“

Lena ist, wie es ein britischer Journalist sagt, „a modern German girl, walking in the wonderland of pop“

Raab sagte auf der Pressekonferenz Ähnliches, was auch Franz Beckenbauer nach dem Gewinn der Fußball-WM 1990 in Italien leider mitteilte: dass es nun schwer werde, Deutschland zu schlagen. Raab sagte: „Nächstes Jahr wollen wir den Titel verteidigen.“ Das war ein Ausdruck angemessenen Sportsgeistes. Und Lena fügte hinzu, sie werde sich nicht scheuen, diesen Titel zu halten.

In der ARD weiß man, dass das Niveau der Shows aus Oslo hoch war. Insofern war es sinnvoll, dass selbst hartnäckigstes Insistieren Thomas Schreiber vom NDR nicht dazu bewegen konnte, den Ort des nächstjährigen Wettbewerb zu nennen. „Es könnten viele Orte in Deutschland sein“, sagte NDR-Intendant Lutz Marmor. Das sei offen.

In Hannover jedenfalls empfingen am Sonntagnachmittag tausende Fans Lena Meyer-Landrut. Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff nahm sie auf dem Flughafen in Empfang und übermittelte ihr die Glückwünsche der Kanzlerin. Am Abend sollte sich Lena im Rathaus, vor dem ebenfalls tausende Fans warteten, ins Goldene Buch der Stadt eintragen.

Jetzt hat Lena die Reste ihrer Schulzeit zu absolvieren. Mitte Juni erhält sie die Resultate ihrer Abiturprüfungen. Spricht man sie auf die Schule an, wirkt sie längst nicht so locker und lustbetont wie sonst: „Ich will das Abitur und dann nie mehr Schule.“ Ein ziemlich bodenständiger Gedanke für eine, die gerade vom Ausflug ins Wunderland des Pops zurückkam.