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Archiv-Artikel

Späße auch über letzte Dinge

SPRACHKUNST Das ästhetische Spiel und seine Tröstungen: Die ersten beiden Bände der groß angelegten Werk-ausgabe zu Ror Wolf sind erschienen

Die Titel sind als Wegweiser zu verstehen, wie sich dieses über 25 Jahren fortgeführte Schreibprojekt lesen lässt: als eine Parodie der vernünftelnden Aufklärer- und Ratgeberliteratur nämlich

VON FRANK SCHÄFER

Wenn man Ror Wolfs vielgestaltiges Werk, das neben Romanen, Kurzprosa, Gedichten auch Hörspiele und eine mittlerweile abgeschlossene, immerhin sechsbändige „Enzyklopädie für unerschrockene Leser“ umfasst, auf einen Nenner bringen wollte, dann wäre das wohl der beharrliche Versuch, die eingespielten ästhetischen Konventionen zu durchbrechen. Seine Romane haben keinen nennenswerten Plot. Seine Erzählungen brechen immer wieder nach einer vielversprechenden Exposition ab, verweigern schlicht die Arbeit. Seine „Enzyklopädie“ verspricht zwar mit großen Worten Ratschlag und Unterweisung, aber Raoul Tranchirer, sein offenbar aus dem tiefsten 19. Jahrhundert stammendes Alter Ego, verwickelt sich in Widersprüche, läuft leer, weiß neben akademischen Nullphrasen und Allerweltsweisheiten nichts Substanzielles, aber dafür viel Grillenhaftes, Groteskes beizusteuern – oder seine hochgelahrte Rede verliert sich gleich in wundervollem Irr- und Aberwitz. Die Gedichte sind immerhin gereimt und metrisch streng gebaut; aber sein Dichterkollege Robert Gernhardt bemerkte auch hier zu Recht die entgrenzende, beinahe anarchische Poetik. „Kein Zweifel, da hat nicht nur er (der Wolf), da hat auch es (das Sprachpotential) gedichtet.“

Wolf lässt es laufen, er überlässt sich den Worten, er improvisiert, das Kalkül kommt erst viel später ins Spiel. Als ich ihn im Mail-Interview, das er vorgeschlagen hatte und das aufgrund einer plötzlichen Erkrankung auch beinahe gescheitert wäre (allerdings kommen seine Antworten dann so prompt und ausführlich, dass man ihn auch für einen Hypochonder halten könnte, wenn man nicht wüsste, dass er vor wenigen Jahren ernstlich krank war) – als ich ihn also nach den Ursachen seines ästhetischen Nonkonformismus frage, kommt er nicht von ungefähr auf seine Jazz-Sozialisation zu sprechen. „Ich wohnte in der DDR und war vom Jazz ganz und gar beeindruckt. Jazz war verboten oder wenigstens unerwünscht, galt als dekadent und war nur in West-Sendern zu hören, nachts. Das waren einzigartige nächtliche Abenteuer. Es gab im Gelände allenfalls 5 oder 10 Menschen, mit denen ich diese Leidenschaft teilte. Damals ist mir klar geworden, dass es nicht auf die Zahl der Fans ankommt, nur auf deren Entschiedenheit. Massenaufmärsche finde ich grauenvoll.“

Der Sprachmusiker

Wolf ist ein „Satz- und Wortkomponist“, so nennt ihn der Schriftsteller Gert Jonke, ein Sprachmusiker, der genauso um die Gewalttätigkeit und Inhumanität der Worte weiß wie um ihre musikalische Schönheit, ihr Glücks- und utopisches Potenzial – und in dessen Werk immer beides zum Stehen kommt, oft genug unmittelbar nebeneinander. Schon mit seinen ersten Gedichten und Prosaarbeiten aus den Sechzigerjahren, „Mein famili“, „Fortsetzung des Berichts“ und „Pilzer und Pelzer“, hat er eine Art Universalpoesie im Sinn gehabt: „Spiel, Heckmeck, Hokuspokus, Burleske, Spaß; Spaß, der freilich an jeder Stelle umschlagen kann in Entsetzen. Das soll weder in den Klappkasten der schöngeistigen noch der engagierten Literatur passen.“

Exemplarisch hat er dies alles eine Zeit lang im „Totaltheater“ des Fußballs gefunden. Er legt sich in den Sechziger- und Siebzigerjahren ein akustisches Archiv an, aus dem dann seine vielgerühmten „Radio-Collagen“ hervorgehen. „Ich war mit Tonbandgeräten in Fußballstadien, in Fan-Club-Kneipen, bei Busfahrten zu Auswärtsspielen, in Spielerkabinen, beim Training, im privaten Bereich der Spieler und Fans“, erklärt er. „Ich habe jahrelang Radioreportagen mitgeschnitten und alles das in vielen Arbeitsgängen ausgewertet, extrahiert, mehrfach transkribiert, geschnitten, immer wieder geschnitten, wieder transkribiert und wieder geschnitten. Damals arbeitete man noch mit Tonbändern: Es war ein jahrelanger gnadenloser Prozess am Schneidetisch. Ich kann versichern, dass ich niemals vorher und niemals danach etwas mit einem vergleichbaren Aufwand an Zeit und Kraft hergestellt habe.“

Die akustischen Collagen machen ihn bald außerhalb der eingeweihten Kreise im Literaturbetrieb bekannt und erscheinen auch in Buchform. Das ist aber allerhöchstens der halbe Spaß. Diese zu einer Melange aus Poésie pure und höherem Blödsinn verschnittene Vielheit der Stimmen muss man schon hören – und man kann nur hoffen, dass sein aktueller Hausverlag Schöffling, der eine große, auf immerhin 13 Bände projektierte Werkausgabe ankündigt, dem einschlägigen Band mit Fußballtexten eine CD beigibt.

Die beiden bisher erschienenen, splendide aufgemachten Werk-Bände enthalten die gesammelten Gedichte, deren Kern der vierteilige, nicht nur für die komische Literatur längst kanonische Gedichtzyklus „Hans Waldmanns Abenteuer“ bildet, und eine Teilausgabe der „Enzyklopädie für unerschrockene Leser“ – „Raoul Tranchirers Mitteilungen an Ratlose“ sowie dessen „Welt- und Wirklichkeitslehre aus dem Reich des Fleisches, der Erde, der Luft, des Wassers und der Gefühle“.

Die Titel sind als Wegweiser zu verstehen, wie sich dieses über 25 Jahre fortgeführte Schreibprojekt lesen lässt: als eine groß angelegte Parodie der vernünftelnden Aufklärer- und Ratgeberliteratur nämlich. Die Satire richtet sich gegen deren dumpfen Positivismus, der durch bloße Faktenakkumulation die Welt zu verstehen meint, einerseits; andererseits aber auch gegen den hybriden szientistischen Anspruch, durch immer kleinteiligere Analyse abschließend erklären zu können, wie hienieden alles mit allem zusammenhängt. Wolf führt die Absurdität beider Seiten der Medaille anschaulich vor, indem er Tranchirer Stichwort für Stichwort wieder auf der glänzenden Intellektuellenglatze Locken drehen oder sich im vollen Menschen- bzw. Tierleben verlieren lässt: „Eber. Der Eber springt auf und vollzieht die Begattung mit Kraft und Geschicklichkeit, während das Mutterschwein, von den wollüstigen Eindrücken der Begattung hingerissen, fest und und ruhig steht. Danach springt der Eber ab, verlässt das Mutterschwein und legt sich in eine Pfütze. Das Mutterschwein aber springt freudig und munter im Hofe umher.“

Dialektischer Parodist

Schon mit seinen ersten Gedichten und Prosaarbeiten aus den Sechzigerjahren, „Mein famili“, „Fortsetzung des Berichts“ und „Pilzer und Pelzer“, hat er eine Art Universalpoesie im Sinn gehabt

Aber die Tranchirer-Texte gehen dennoch nicht auf im bloßen Verlachen. Vielleicht versteht man sie am besten, wenn man als Lesemodell das Parodiekonzept Peter Rühmkorfs in Anschlag bringt, der postuliert hat, die Parodie müsse ihren Gegenstand dialektisch vorführen, ihn eben nicht nur ironisch in Frage stellen, sondern ihn auch aufheben, aktualisieren und somit weitertradieren. Darum scheint es auch Wolf zu gehen, wenn er sich den Charme, die Suggestivkraft und den poetischen Glanz dieser anachronistischen Sprache mit stupendem stilmimetischem Talent anverwandelt.

Die „Enzyklopädie“ fußt somit auf dem gleichen poetologischen Konzept wie seine Radio-Collagen. Da ging es ihm ebenfalls nicht zuletzt darum, die „bizarre Welt“ des Fußballs via O-Ton in ihrer emotionalen Totalität abzukonterfeien – und eben nicht bloß zu karikieren. So gewinnt man denn auch bei der Lektüre seiner „Enzyklopädie für unerschrockene Leser“ sehr bald den Eindruck, dass hier viele alte Konversationslexika, Wörterbücher und Ratgeber exzerpt- und zitatweise eingegangen sein müssen. Ich frage Ror Wolf nach den Produktionsbedingungen solcher Texte – ob er die alten Scharteken immer in Reichweite habe oder ob er sich auf ein differenziertes Zettelkastensystem stützen könne. „Ich habe von Anfang an Einfälle notiert und gesammelt, ich habe auch ein ,differenziertes Zettelkastensystem‘ angelegt. Damit arbeite ich, wenn es nötig ist“, antwortet er, um dann gleich einzuschränken. „Aber bei Tranchirer sind Hilfsmittel längst nicht mehr nötig. Er ist meine Kreatur. Den Tonfall beherrsche ich. Tranchirers Enzyklopädie ist übrigens abgeschlossen. Sie sehen, ich bereite mich auf das Ende vor.“

Bei solchen Sätzen hätte man ihm schon gern gegenüber gesessen, um im Gestisch-Mimischen einen Hinweis darauf zu finden, für wie ernst man das nehmen soll. Andererseits finden sich genügend Hinweise in seinen jüngsten Gelegenheitsgedichten, die sich jetzt ausschließlich um die letzten Dinge drehen. Die verspielte Nonchalance und Unverkrampftheit hält er trotzdem und immer noch durch. Wolf hat zu lange mit dem Schrecken seine Späße gemacht, um sich jetzt plötzlich in moribundem Lamento zu ergehen und das komische Potenzial des Sujets unangetastet zu lassen: „Auf Wiedersehen, wir werden demnächst sterben, / und das kommt auch nicht alle Tage vor, / wir werden kalt, wir werden uns verfärben / und jemand kommt und wird uns dann beerben. / Der Wind im Schädel pfeift uns aus dem Ohr.“

Ror Wolf will auch nur das, was alle Dichter wollen: die unselige Conditio humana formal bewältigen und so zumindest momenthaft transzendieren und vergessen machen. Das Tröstende des ästhetischen Spiels, wenn es gelingt – in solchen Versen offenbart es sich noch einmal nachdrücklich. Dass ihm dabei jedes poetische Mittel recht ist und er selbstredend auch den Kalauer nicht verschmäht, demonstriert nur wieder die Demut und völlige Dünkellosigkeit dieses Autors, der dennoch eines stets für sich in Anspruch genommen hat: „Mir ging es immer darum, so zu schreiben, wie ich wollte, und das zu schreiben, was ich wollte. Das wird so bleiben. Wenn das einem Verleger nicht passt, werde ich seinen Verlag verlassen. Das geht schnell. Ich habe nie versucht, mich anzupassen.“

■ Ror Wolf: „Werke. Im Zustand vergrößerter Ruhe. Die Gedichte“. Herausgegeben von Friedmar Apel. 480 S., 49 €. „Raoul Tranchirers Enzyklopädie für unerschrockene Leser“. Bd. 2. Herausgegeben von Thomas Schröder. 486 S., 75 €. Beide Schöffling & Co. Frankfurt a. M. 2009