: Ein dumpfes Brummen, ein fernes Beben
THEATER Rimini Protokoll dokumentiert in seinem neuen Stück „Herr Dagacar und die goldene Tektonik des Mülls“ die Arbeit von Wertstoffsammlern in Istanbul und ihre schrecklichen Albträume. In Essen gastierte die Produktion, die dann nach Holland weiterzieht
VON ALEXANDER HAAS
Die Aufführungen des Regie-Kollektivs Rimini Protokoll sind oft eine Wohltat, nicht nur für Kritiker: Die Wohltat, normale Leute als Akteure auf der Bühne zu erleben und kein Als-ob von Schauspielern; die Wohltat eines Stoffes aus dem Alltag, der hier um Klassen realitätsorientierter bearbeitet wird als noch im härtesten Regietheater; die Wohltat, unverstellte Stimmen und Sprechweisen von „Experten des Alltags“ zu hören, die Rimini-Protokoll statt Schauspielern einsetzt. In diesem Fall sind es Stimmen in türkischer Sprache, die deutsch übertitelt wurden bei der Aufführung auf Pact Zollverein in Essen.
Zu Beginn von „Herr Dagacar und die goldene Tektonik des Mülls“, einem Beitrag der Gruppe zur Kulturhauptstadt Ruhr.2010 und eine Koproduktion mit der Kulturhauptstadt Istanbul, erzählt Bayram Renklihava, Wertstoffsammler in Istanbul, mit ruhiger und dunkler Stimme einen Traum. Es ist ein schrecklicher Traum, alle seine Kinder sterben an einem Virus, und er ist es, der sie in Säcken in eine Müllkippe werfen soll. Später folgt ein weiterer Traum, erzählt vom Mitspieler Abdullah Dagacar, nach dem das Stück benannt ist. Leise spricht er, in dieser für viele im Saal fremden Sprache. Es wirkt wie ein gleichmäßig trocken-rollendes Gesäusel, die fremde Zunge bekommt eine eigene ästhetische Qualität. Wieder ist es ein schrecklicher Traum, der von einem unergründlichen, hellen Licht erzählt. Apo, so nennen seine Mitspieler Herrn Dagacar, beschließt den Traum mit zwei Gebeten aus dem Koran.
Drei Erzähler aus anatolischen Dörfern
Passagen wie diese machen deutlich, dass die vier Protagonisten des Stücks, die ein türkischer Karagöz-Spieler begleitet, aus einer anderen Welt als der unseren stammen. Drei von ihnen kommen aus anatolischen Dörfern, einer aus der Stadt Mersin. Die Aufführung berichtet von ihrer Tätigkeit als Wertstoffsammler in Istanbul, ihrer Herkunft, ihren Wünschen, kurz: von ihrem Leben. Die Regisseure Helgard Haug und Daniel Wetzel haben sie angesprochen und gefragt, ob sie in einem Theaterstück über sich und ihren Beruf mitmachen wollten. Auch der Prozess, der mit dieser Frage begann und bis zur Istanbuler Premiere im Oktober und der in Essen am vergangenen Freitagabend andauerte, ist Gegenstand des Abends. Die Performer berichten von den Skrupeln der Regisseure, mit dem Stück in das Leben der Sammler einzugreifen. Welche Folgen hätte das für deren Leben? Was für eine Geste wäre das? Und sie erzählen, dass sie zwar mitmachen wollten, aber nicht immer daran glaubten, dass es wirklich dazu kommen würde.
Die Zuschauer sehen die fünf Experten auf der großen leeren Bühne von Pact Zollverein in Essen, ihre großen Handwagen aus Eisen, auf denen sie in riesigen weißen Plastiksäcken den Müll der Stadtbewohner und Geschäfte sammeln, ihn sortieren und verkaufen. Normalerweise stinkt dieser Müll, sondert ungesunde Gase ab. Aber die vier wollten den Müll und ihre Wohndepots nicht auf der Bühne haben. „Wir wollten mit unserer Kultur und unseren Bräuchen auf der Bühne stehen“, sagt einer.
Von denen ist an diesem Abend viel zu sehen und zu hören. In den Träumen, in Spielen, die sie in ihren Dörfern machen, und die sie auf der Bühne wiederholen. Doch gerade dieses Kulturgut macht das widersprüchliche, entbehrungsreiche Leben der Müllsammler nur noch deutlicher. Wenn sie in der Stadt ihre Arbeit verrichten, aus einem ökonomischen Zwang heraus, dann treten Herkunft und Kultur in den Hintergrund.
Sie konkurrieren mit den Vertragsfirmen der Stadtverwaltung, müssen Arbeitsuniform tragen, weil sie vor den Touristen dann offizieller aussehen, sie sind abhängig von den schwankenden Weltmarktkursen der Materialien, die sie verkaufen, Eisen, Aluminium oder Papier.
Die Regisseure brechen die Erzählungen ihrer Protagonisten geschickt auf, wechseln sie mit anderen Darstellungsformen und Themen ab, die aber immer einen Bezug zu der Erzählung über die Müllsammler haben. Der Karagöz-Spieler Hasan Hüseyin Karabag ist in das Bühnengeschehen integriert mit seinem lustigen Schattentheater, das unserem Kasperltheater gleicht. Er baut die anderen vier Experten als Figuren in sein Spiel ein und macht sich über ihre Geschichten lustig. Die wirkungsvolle Soundebene blendet seismografische Geräusche von türkischen Erdbebenstationen ein, ein dumpfes Brummen, das den Zuschauer in die Geschichten hineinzieht und sie zugleich als risikobehaftet ausweist. Einige Sammler erzählen von Beben, die sie erlebt haben.
Am Ende steht ein komplexes und anrührendes dokumentarisches Erzähl-Bild über ein Stück Realität, das nur wenigen seiner westlichen Betrachter dort, wo Rimini-Protokoll mit dem Stück auftreten, vorher bekannt gewesen sein dürfte. Ein dramaturgisch wohl komponierter Abend, aufklärerisch ohne Zeigefinger, unprätentiös, humorvoll.
■ „Herr Dagacar und die goldene Tektonik des Mülls“ läuft am 3. und 4. 12. in Rotterdam, am 6. und 7. 12. 2010 in Utrecht