: „Ein liebevoll-kritisches Verhältnis“
VÖLKERDIALOG Parallel zum SHMF befasst sich die Ausstellung „Von Danzig nach Lübeck. Günter Grass und Polen“ mit dem Lebensthema des Literaturnobelpreisträgers: der Aussöhnung von Deutschen und Polen
Über den Köpfen schweben Papierflieger. Auf jedem steht ein Datum und ein Ereignis. Etwa „1. 9. 1939 – Sturm auf die polnische Post“. Darunter, auf einem Holztischchen, liegen blaue Plastikkarten. Auf einer sehen wir ein Foto von Franciszek Krauze. Der Onkel von Günter Grass war ein Lieblingscousin seiner Mutter, gehörte wie sie zur kaschubischen Minderheit in Danzig, und war einer der Verteidiger des polnischen Postamts.
Die deutschen Angreifer verhafteten den polnischen Postbeamten Krauze, erschossen ihn und lösten mit diesem und weiteren Angriffen den Polenfeldzug sowie den Zweiten Weltkrieg aus. Die Ausstellung „Von Danzig nach Lübeck. Günter Grass und Polen“ im Günter Grass-Haus in Lübeck ist randvoll mit Anekdoten und Ereignisgeschichten.
Kein Wunder, könnte man denken, dass der Schriftsteller, der in Behlendorf bei Lübeck lebt, die Aussöhnung von Deutschen und Polen zu seinem großen Lebensthema machte. Wie der Literaturnobelpreisträger den Völkerdialog in Gang brachte, zeigt die Sonderausstellung, die einen Bogen von Grass’ Geburtsjahr 1927 bis in die Gegenwart schlägt. „Mein Verhältnis zu Deutschland wie zu Polen ist gleichermaßen ein liebevoll-kritisches“, sagt Grass zu Jörg-Philipp Thomsa. Der Leiter des Grass-Hauses nennt ihn einen „Mittler zwischen Polen und Deutschen“.
Als solcher trat er bereits Mitte der 50er Jahre auf den Plan. In der Ausstellung hängt ein Faksimile des Gedichts „Die polnische Fahne“. Grass und seine Familie mussten ihre Heimat nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen. Doch gegen die Forderungen der Vertriebenenverbände nach einer Rückkehr schrieb und redete Günter Grass leidenschaftlich an. Stattdessen forderte er bereits 1961 öffentlich die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze.
Zwei Jahre zuvor war der Autor mit „Die Blechtrommel“ berühmt geworden, dem ersten Teil der Danziger Trilogie. In seinem Romandebüt arbeitete er seine deutsch-kaschubische Familiengeschichte auf. Für die Recherchen reiste Grass 1958 erstmals wieder nach Gdánsk und knüpfte Kontakte zu Polen. 1993 erhielt er in seiner Geburtsstadt die Ehrenbürgerwürde, die ihm vor vier Jahren fast aberkannt worden wäre. Damals erklärte Grass in „Beim Häuten der Zwiebel“, dass er Mitglied der SS gewesen sei.
Fotos, Manuskripte, Interviews und Briefe zeigen, wie sich Grass immer wieder in die deutsch-polnische Debatte einmischte. Erlebnisse als Augenzeuge, wie bei Willy Brandts historischer Kniefall 1970, verarbeitete Grass literarisch 1999 in „Mein Jahrhundert“. In „Der Butt“ (1977) geht es um die gewaltsam niedergeschlagenen Generalstreiks auf der Danziger Lenin-Werft Anfang der 70er Jahre, und die Solidarnosc-Gewerkschaft spielt in „Die Rättin“ (1986) eine Rolle. Später beschäftigte sich Grass mit der Vertreibung aus deutscher Sicht („Unkenrufe“ (1992), „Im Krebsgang“ (2002)).
Lithografien, Zeichnungen, Radierungen ergänzen die Dokumente, Film- und Hörstationen. Grass, der Bildhauerei und Grafik studiert hat, illustrierte viele seiner Gedichtbände, entwarf Buchumschläge. Mit Fischen, Ratten, Fröschen oder Krebsen schlug er visuelle Brücken zu seinen Romanen. Im Frühjahr zieht die zweisprachige Ausstellung weiter in die Günter Grass Galerie in Gdánsk. THOMAS JOERDENS
bis 31. Januar 2011, Günter Grass-Haus, Lübeck