: Bellen oder beißen?
TEILHABE Kein Wunschzettel für den Weihnachtsmann: der Politikwissenschaftler Michael Krennerich und sein Buch über „Soziale Menschenrechte“
VON WOLF-DIETER VOGEL
Wer sauberes Trinkwasser fordert, für eine angemessene Unterkunft kämpft oder seine Teilnahme am kulturellen Leben der Gesellschaft einklagt, ist kein Bittsteller, sondern hat das internationale Recht auf seiner Seite. Schon 1966 schrieben die Vereinten Nationen „soziale Menschenrechte“ wie die auf Wohnen, Nahrung, Sanitärversorgung, Gesundheit, Bildung oder Arbeit im UN-Sozialpakt fest. Dennoch werden diese Rechte neben den politisch-bürgerlichen wie zum Beispiel Versammlungs-, Meinungs- oder Religionsfreiheit nicht gleichberechtigt wahrgenommen. Viele halten sie für unverbindliche Absichtserklärungen, die juristisch nicht durchsetzbar seien.
Dem widerspricht Michael Krennerich vehement. „Soziale Menschenrechte“, so der Nürnberger Politikwissenschaftler in seinem gleichnamigen Buch, seien „kein Wunschzettel für den Weihnachtsmann“. Im Gegenteil: Vor allem in der jüngeren Vergangenheit hätten sie immer mehr an Bedeutung gewonnen, in zahlreichen Verfassungen sowie Arbeits-, Sozial- und Bildungsgesetzen seien sie in Teilen verankert. Auch in internationalen, völkerrechtlich zunächst unverbindlichen Deklarationen besäßen sie inzwischen „gewohnheitsrechtliche Bindungskraft“.
Das klingt abstrakt, hat aber große Auswirkungen auf soziale Kämpfe, wie Krennerich in seiner wissenschaftlichen und doch angenehm lesbaren Studie beschreibt.
Zunehmend beziehen sich zum Beispiel in Südamerika Indigene, die von ihrem Land vertrieben werden, Kleinbauern, die gegen die Patentierung von Saatgut kämpfen, oder Lehrer, die angemessene Lernbedingungen für ihre Schüler fordern, auf diese Garantien und klagen vor internationalen Gremien wie dem Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof in San José, Costa Rica.
Krennerich, der als Professor am Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Universität Erlangen-Nürnberg tätig ist, beschreibt, wie solche Anzeigen erfolgreich sein können. Auch (um den Kontinent zu wechseln), wie das oberste südafrikanische Gericht das Gesundheitsministerium dazu verpflichtet hat, in öffentlichen Krankenhäusern Medikamente gegen HIV-Übertragung von Müttern auf ihre Kinder zur Verfügung zu stellen.
Selbst deutsche Bundesverfassungsrichter bezogen sich auf den UN-Sozialpakt, als sie letztes Jahr feststellten, dass die Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz „evident unzureichend“ seien. Solche juristischen Erfolge können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Umsetzung sozialer Menschenrechte bislang kaum gerichtlich erzwungen und von daher zumeist gesellschaftspolitisch erkämpft wird. Internationale Kontrollverfahren taugen eher zum „Bellen als zum kräftigen Beißen“, sagt Krennerich. Er betont von daher die Bedeutung transnational agierender NGOs und Bewegungen, die menschenrechtlich begründbare Rechtsansprüche nutzen, um „öffentlich Gegenmacht aufzubauen“. Gemeint sind gezielte Kampagnen, etwa gegen die Arbeitsbedingungen in der Bekleidungsindustrie von Bangladesh oder den Bau eines Staudamms in der Türkei.
Krennerichs Buch bietet eine umfassende Bestandsaufnahme, die den völkerrechtlichen Rahmen der sozialen Menschenrechte ebenso darstellt wie die alltägliche politische Praxis. Die Studie dient als Überblick für Einsteiger und zugleich als Nachschlagewerk für Experten.
Der Autor warnt dabei, dass die Menschenrechtsidee überspannt oder trivialisiert werde. Das Recht auf Arbeit verspreche nicht allen einen Arbeitsplatz, sondern verpflichte die Regierungen vielmehr zu Maßnahmen, für Vollbeschäftigung zu sorgen. Und das Recht auf Nahrung fordert keinen alimentierenden Staat, aber dass dieser sich für eine angemessene Ernährung für alle einsetzt.
Die Frage, ob eine weltweite Garantie auf Nahrung, Wohnung und Gesundheitsversorgung unter kapitalistischen Vorzeichen überhaupt möglich ist, wirft Krennerich nicht explizit auf. Mit seiner Kritik an internationalen Handelsbeziehungen, die zu ungezügeltem Ressourcenabbau, massenhaften Vertreibungen und ausbeuterischer Kinderarbeit führten, legt er diese Überlegung aber nahe.
Er setzt jedoch auf Verrechtlichung, Sanktionen und, wenn auch skeptisch, auf „Lernprozesse“ unter jenen, „die in sozialen Menschenrechten vor allem wirtschaftliche Wettbewerbsnachteile und immense Kostenfaktoren sehen“.
Es lohnt sich auch, einige Aspekte weiterzudenken, die Krennerich im abschließenden Kapitel seines Buches anreißt. Dort orientiert er darauf, die sozialen Menschenrechte im emanzipatorischen Sinn zu interpretieren, um eine globale „gegenhegemoniale Agenda“ zu etablieren.
■ Michael Krennerich: „Soziale Menschenrechte. Zwischen Recht und Politik“. Wochenschau Verlag, Schwalbach 2013, 526 Seiten, 29,90 Euro