: Heute das Damals suchen
HEIMWEH Czernowitz – ethnisches Dorado. Nazis und Sowjets zerstörten es. Nun aber wird es wieder sichtbar
AUS CZERNOWITZ DANIEL FUHRHOP
Dicht an dicht reihen sich die Gräber auf dem jüdischen Friedhof von Czernowitz – schief mitunter, von Moos bedeckt, von Geäst umschlungen. 50.000 Grabsteine bis zum Horizont. Nur Rose Ausländer und Paul Celan, beider Herz hing an Czernowitz, liegen nicht da.
Die Vielvölkerstadt liegt in der Bukowina, bis 1918 das östlichste Kronland des Habsburgerreiches. Der jüdische Friedhof dort ist einer der größten Europas. Jahrzehntelang wurde er der Verwahrlosung überlassen. Doch nun legen Arbeiter die Grabsteine wieder frei und säubern die Inschriften. Auf Deutsch, Hebräisch, Ukrainisch, Russisch erinnern sie an Menschen der Stadt. Den jüdischen Bürgermeister Edgar Reiss. Den Schriftsteller Elieser Steinbarg. Andere.
Zwischen den Gräbern ist die erregte Stimme eines Mannes zu hören. „Tschernivtsi“ versteht selbst, wer nicht Ukrainisch spricht. Oder „Kontrakt“. Der streitbare Mann ist Josip Burzug, 80 Jahre, aufrechte Haltung, stolzer Blick. Den Wortwechsel führt er mit Mykola Kuschnir, einem Historiker. Plötzlich, als wäre nichts gewesen, lacht Burzug, klopft Kuschnir auf die Schulter, wechselt vom Ukrainischen ins Deutsche. Es sei eben viel zu klären, wenn die jüdische Kultur der Bukowina und von Czernowitz wiederbelebt werde.
Das Zentrum dieser Viertelmillionenstadt im Westen der Ukraine sieht aus wie eine nahezu unveränderte habsburgische Residenzstadt mit Philharmonie und Stadttheater – prächtige Bauten aus dem 19. Jahrhundert. Repräsentative Plätze wirken wie aus Wien hierherverschoben. Und über der Stadt thront der reich verzierte Ziegelbau des orthodoxen Metropoliten. Dessen Residenz beherbergt seit 1875 die Universität und ist seit 2011 Unesco-Welterbe.
In den eindrucksvollen Bauten hatte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein nicht minder bedeutendes kulturelles Leben entwickelt, das vor allem von Juden geprägt wurde. 1940 lebten etwa 50.000 von ihnen in der Stadt. Doch während des Zweiten Weltkriegs zerstörten die Deutschen und ihre rumänischen Alliierten das jüdische Leben von Czernowitz. Die Literaten zerstreuten sich in alle Welt: Rose Ausländer wanderte nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA aus, verbrachte ihre letzten Jahre aber in Düsseldorf. Paul Celan zog 1945 nach Bukarest und floh von dort 1947 nach Paris, wo er 1970 den Freitod wählte.
Juden gingen
Als Rose Ausländer in den 1930ern in Czernowitz dichtete und Paul Celan die Schule beendete, wurde dort Josip Burzug eingeschult. Er ist einer der Letzten, die noch Jiddisch sprechen, lesen und schreiben lernten. In der Ukraine sterbe die jiddische Sprache und selbst in Israel verschwinde sie, sagt Burzug, der nach dem Gang über den Friedhof das neue Jüdische Museum zeigt, das sich im Jüdischen Nationalhaus befindet. Es entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts als eines von fünf Häusern der dort ansässigen Bevölkerungsgruppen – der Deutschen, Polen, Ukrainer, Rumänen und Juden.
Burzug spricht Deutsch, mit jenem leichten Akzent, jener ungewöhnlichen Satzstellung und den eingestreuten jiddischen Wörtern, die von seiner Vielsprachigkeit zeugen. „Vier Sprachen, viersprachige Lieder“ schrieb Rose Ausländer über die Bukowina. Josip Burzug spricht sie alle. Deutsch, Russisch, Ukrainisch, Jiddisch. Auch Hebräisch. „Hebräisch ist für das Gespräch mit Gott. Darum brauchen wir Juden auch das Jiddische für den Streit und die Flüche.“
Russisch indes wurde wichtig, als die Sowjets 1945 Czernowitz und die Ukraine besetzten. Josip Burzug musste auf eine russische Schule wechseln, um weiterzukommen, dann wurde ihm das Medizinstudium verweigert. „Man hat die Juden damals diskriminiert.“ Er blieb hartnäckig, wurde schließlich doch angenommen und arbeitete später viele Jahrzehnte als Arzt. Anfangs war er im Osten der Ukraine tätig, dann wieder in Czernowitz, „immer zurück zum Pruth“, wie Rose Ausländer schreibt.
Burzug hängt an dieser Stadt. Aber kaum einer seiner Freunde lebte noch dort, als er zurückkam. Viele waren ermordet, andere ausgewandert. Stattdessen waren Juden aus allen Teilen der Sowjetunion nach Czernowitz gezogen, denen die Stadt nichts bedeutet – wer Celan war, weiß heute kaum jemand hier.
Ab den 1970ern und mit der Perestroika in den 80er Jahren änderte sich das Leben: Die Sowjetunion brauchte Devisen und ließ viele Juden ausreisen: „Erst wollte niemand Jude sein, doch da wollte plötzlich jeder Jude sein“. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 ging der Exodus weiter. Von den 15.000, die sich nach dem Krieg in Czernowitz neu angesiedelt hatten, sind nur tausend geblieben.
Trotzdem begann eine Wiederbelebung der jüdischen Kultur. Zwar erhielt die jüdische Gemeinde das Nationalhaus nicht zurück, aber die Räume kann sie nutzen. Auch das neu gegründete Jüdische Museum ist dort eingezogen. Das Museum zeigt Fotos von Gebäuden, die von der jüdischen Vergangenheit zeugen – neben Schulen und Krankenhaus allein über 50 Synagogen. Viele Häuser stehen heute noch, und wenn ukrainische Schüler die Bilder sehen, verstehen sie schlagartig, welche Bedeutung die Juden für die Stadt hatten. „Wir als Museum sind dafür da, den jungen Leuten Toleranz nahezubringen“, sagt Museumsdirektor Mykola Kuschnir.
„Heute gibt es hoffentlich keinen Antisemitismus mehr in Czernowitz“, sagt Burzug, der unermüdlich weiter für die neue Gedenkkultur wirbt und Geld sammelt bei Emigranten für die Restaurierung des Friedhofs oder für ein Denkmal zu Ehren Traian Popovicis. Dieser rumänische Bürgermeister rettete während der deutsch-rumänischen Besatzung 15.000 Juden, indem er sie zu unverzichtbaren Fachleuten erklärte, ähnlich wie Oskar Schindler.
Josip Burzug kümmert sich aber auch um Gedenkorte in den Dörfern der Bukowina. In vielen gab es im Zweiten Weltkrieg Pogrome, wenn zwischen den Vormärschen der deutsch-rumänischen beziehungsweise der sowjetischen Truppen ein Machtvakuum entstand. „Wir fragen die ältesten Einwohner, wo sie damals Schüsse hörten, und suchen die Gräber.“
Touristen kommen
Die Erinnerung an die Blütezeit deutschsprachiger Kultur und Literatur in Czernowitz lockt inzwischen Touristen, die auf den Spuren von Paul Celan und Rose Ausländer wandeln, aber auch auf denen von weniger bekannten Autoren wie Karl Emil Franzos und Selma Meerbaum-Eisinger. Einerseits findet Josip Burzug das gut: „Die Welt soll wissen, wie viel die Juden ihr gegeben haben.“ Er begrüßt auch, dass es wieder eine jüdische Schule in der Stadt gibt, weil die Kinder mehr über die Religion erfahren als ihre Eltern, die in der Sowjetzeit aufwuchsen. Gleichzeitig macht ihn die Hinwendung zum Jüdischen auch skeptisch: Die „Judaica“, die man an der Universität lehrt, seien zu theoretisch und hätten nichts mit dem gelebten Judentum zu tun.
Josip Burzug verabschiedet sich mit Lächeln, Händedruck und einem Fingerzeig auf das Treppenhaus des Jüdischen Nationalhauses: Die Davidsterne am Geländer wurden zu Sowjetzeiten verunstaltet. Erst nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 hat man sie wieder instand gesetzt. Einen aber ließ man in seiner verfremdeten Form, als Erinnerung an jene Zeit.
Ganz zum Schluss gibt er seinen Besuchern augenzwinkernd noch eine Geschichte mit auf den Weg: „Albert Einstein traf einmal russische Physiker und fragte sie, ob es in der Sowjetunion Antisemitismus gebe“, erzählt Burzug. „Die Russen verneinten und fragten, ob es etwa in den USA anders sei. Da sagte Einstein: ‚Als Physiker wissen wir, dass jeder Mensch einen Schatten hat. Der Antisemitismus ist der Schatten der Juden.‘ “