: Finanzbranche will Renten
RENTENREFORM Bei dem Streit werden Alte gegen Junge, Männer gegen Frauen aufgehetzt. Doch sie sind nicht das Problem
■ Die promovierte Volkswirtschaftlerin war bis 2006 stellvertretende Vorsitzende des DGB und saß bis 2009 im SPD-Vorstand. An dieser Stelle mahnte sie zuletzt im Oktober Handlungsbedarf in Sachen Jugendarbeitslosigkeit an.
Andrea Nahles legt eine Rentenreform vor und Wirtschaft, Wissenschaft und Medien regen sich fürchterlich auf. Der Wirbel ist ein gutes Lehrstück in Sachen Verteilungskämpfe in der Bundesrepublik. Geschürt werden die Konflikte zwischen Alt und Jung, Männern und Frauen, besser und schlechter Verdienenden sowie zwischen Erwerbstätigen und Erwerbslosen.
Überdeckt wird damit der Verteilungskampf zwischen Wirtschaft und Finanzbranche einerseits sowie andererseits den Arbeitnehmern und Rentnern. Die Wirtschaft will die Arbeitskosten senken, Banken und Versicherungen wollen ein größeres Stück vom Kuchen der beitragsfinanzierten gesetzlichen Altersrente für ihre Kapitalanlagen.
Dank der Finanzkrise
Die große Mehrzahl der durch Pflichtbeiträge Versicherten erhebt zu Recht Anspruch auf eine gesetzliche Altersrente, die den Lebensstandard maßgeblich sichert und vor Altersarmut schützt. Natürlich hat es bei allen größeren Rentenreformen große Konflikte gegeben. Das gehört dazu. Insbesondere bei der Riester-Reform und ihrer Einführung der kapitalgedeckten Zusatzversorgung auf Kosten der gesetzlichen Altersrente. Mit den Finanzkrisen seit 2008 und der Entwertung kapitalgedeckter Zusatzrenten haben diese Verteilungskämpfe allerdings an Schärfe deutlich gewonnen.
Andrea Nahles ist nun die erste Zielscheibe der Angriffe von Seiten der Wirtschaft und der Finanzbranche, und es rächt sich, dass die SPD bei den Koalitionsverhandlungen auf ihre eigenen Renten- und Steuerbeschlüsse sang- und klanglos verzichtet hat. Mit dem hart errungenen Kompromiss, das Rentenniveau auf den derzeit knapp 50 Prozent des Nettoeinkommens (vor Steuern) zu stabilisieren, wäre der Bundesrepublik das weitere Absinken auf 43 Prozent bis 2030 und damit millionenfache Altersarmut erspart geblieben.
Mit der Erhöhung des Spitzensteuersatzes hätte die notwendige Finanzierung dazu erleichtert werden können. Der jetzige Koalitionskompromiss zur Rentenreform – Mütterrente für die Wähler der CDU/CSU und 63er-Regelung für diejenigen der SPD – ist ein rentenpolitischer „Flickenteppich“, der zu Recht von allen Seiten unter Beschuss genommen wird. Und die Bundesarbeitsministerin muss sich den Vorwurf der Klientelpolitik gefallen lassen. Die stereotype Wiederholung von Spitzenpolitikern der SPD, ihre Partei müsse sich in der Großen Koalition als Garant der sozialen Gerechtigkeit profilieren, überzeugt nicht.
Verlierer dieser Rentenreform sind wieder einmal die Frauen. So bringt die Mütterrente zwar ein Stück ausgleichende Gerechtigkeit. Allerdings geht diese mit neuen Ungerechtigkeiten einher: So fehlt die Anrechnung eines dritten Rentenpunktes, wie er für die nach 1992 geborenen Kinder gilt. Kinder im Osten sind mit einem zusätzlichen Rentenwert von etwa 26 Euro im Monat weniger wert als Kinder im Westen mit 28 Euro.
Schäuble bedient sich ungeniert
Finanzieren müssen die Kosten von etwa 6,7 Milliarden Euro im Jahr vor allem die Beitragszahler. Erst ab 2019 sollen pro Jahr mit 2 Milliarden Euro aus Steuermitteln noch nicht einmal ein Drittel der Ausgaben beigesteuert werden. Die Verschiebemanöver zwischen der gesetzlichen Altersversicherung und dem Bundeshaushalt werden damit fortgesetzt. Seit den Finanzkrisen und den Schuldenbremsen im Grundgesetz – zuletzt verschärft durch den EU-Fiskalpakt – greift der alte und neue Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble immer ungenierter in die Kassen und Taschen der Beitragszahler. Bei der gesetzlichen Rentenversicherung erfolgt ein derartiger Fischzug zur Sanierung des Bundeshaushaltes von 2 Milliarden Euro im Jahr. Noch gravierender sind diese Raubzüge aber bei der sogenannten 63er-Regelung, sie gehen in erster Linie gegen Frauen.
Profitieren können von der Möglichkeit, mit 63 nach 45 Beitragsjahren ohne Abschläge in die Altersrente zu gehen, vor allem die besser verdienenden Männer mit durchgängigen Erwerbsbiografien. Allerdings müssen alle sozialversicherungspflichtigen Frauen zur Finanzierung dieser 63er-Regelung beitragen.
Weitere Ungerechtigkeiten entstehen dadurch, dass nun bei der vorgesehenen 63er-Regelung der Bezug von ALG I als Beitragszeit anerkannt werden soll. Abgesehen davon, dass keine vollständigen Daten bei den Sozialversicherungen über ALG-I-Bezüge vorliegen, werden damit die Schleusen zur Frühverrentung wieder geöffnet.
Frauen zahlen drauf
Dies ist zwar all denjenigen zu gönnen, die jahrzehntelang hart gearbeitet sowie Beiträge und Steuern gezahlt haben. Aber gleichzeitig werden die Ungerechtigkeiten – vor allem zu Lasten der Frauen – verschärft. Auch sie haben hart arbeiten und dafür Steuern und Beiträge zahlen müssen, allerdings in schlechter bezahlten und weniger abgesicherten Jobs, häufig unterbrochen von Erziehungszeiten für die Kinder.
Wenn es wirklich um soziale Gerechtigkeit gehen soll, muss die Rente mit 67 für alle ausgesetzt werden – zumindest so lange, bis quantitativ und qualitativ ausreichende Arbeitsplätze zur Verfügung stehen und die Betroffenen auch gesundheitlich zur Weiterarbeit in der Lage sind. Dies ist nachweislich nicht der Fall.
Die Weichenstellung zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns war längst überfällig – insbesondere auch, um Armut bei Arbeit und im Alter zu verringern. Allerdings wird die vorgesehene Höhe von 8,50 Euro zu einer existenzsichernden Rente vielfach nicht ausreichen.
Sträflich vernachlässigt werden in Koalitionsvereinbarung und Reformpolitik zudem die Niedrig- und Armutsrenten infolge der etwa 7 Millionen Minijobs, davon zwei Drittel für Frauen.
Die Große Koalition mit ihrer überwältigenden Mehrheit hat die politische Legitimation, den notwendigen Paradigmenwechsel in der Rentenpolitik einzuleiten und den weiteren Abfall des Rentenniveaus aufzuhalten. Sie hat die Macht, Rentnern und Beitragszahlern viele Konflikte, Ängste, Armut und Ausgaben zu ersparen. Leider gibt es bislang keine Zeichen, dass sie sich für diese Sorgen interessiert.
URSULA ENGELEN-KEFER