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Archiv-Artikel

Die Abschaffung der Lüste

NICHTRAUCHEN IST NEOLIBERAL Zu viel Gesundheit schadet nur, zu viel Vernunft auch: Robert Pfaller sucht nach dem Leben vor dem Tod

VON TIM CASPAR BOEHME

Die Zigarette ist ein vollendetes Sinnbild für den vollendeten Genuss. Sie schmeckt köstlich und verschafft einem keinerlei Befriedigung.“

Diese Beobachtung, die Lord Henry Wotton in Oscar Wildes „Bildnis des Dorian Gray“ noch völlig unbefangen aussprechen darf, kann man heutzutage wohl kaum noch guten Gewissens im öffentlichen, von Rauchverboten durchsetzten Raum artikulieren. Zumindest riskiert man dabei eine ordentliche Rüge für mangelndes Gesundheitsbewusstsein.

Doch man muss nicht einmal Raucher sein, um die Pointe dieser feinen Charakterisierung des Rauchens zu begreifen: Es ist pure Verschwendung im Zeichen eines Moments des Glücks, das einen am Ende unbefriedigt zurücklässt und so verhindert, dass man seiner überdrüssig wird. Ein kleines Glück vermutlich, aber eines, für das man die eigene Gesundheit schon mal ein wenig hintanzustellen bereit ist.

Dass Rauchen heutzutage zum Wohl der Mitmenschen fast nur noch im Privaten stattfindet, betrachtet der Wiener Philosoph Robert Pfaller in seinem Buch „Wofür es sich zu leben lohnt“ denn auch nicht als kulturellen Fort-, sondern als Rückschritt. Genüsse, in denen „etwas Ungutes zur Quelle triumphaler Lust“ wird, sind in seinen Augen nämlich genau das, wofür es sich eigentlich zu leben lohnt. In den vergangenen Jahren hat freilich eine Umwertung dieser Genüsse stattgefunden, die sie als gesundheitsschädlich, unvernünftig oder sonst wie unzumutbar brandmarkt.

Pfaller sieht hier eine Tendenz neoliberaler Gesellschaften am Werk, in der sich die öffentliche Hand nicht mehr um das Wohl der Staatsbürger kümmert, sondern Verbote verhängt, die – wie das Rauchverbot – weniger dem Schutz von Individuen vor Krankheiten dient, sondern als Untergrabung des Solidaritätsprinzips funktionieren: Da in der Öffentlichkeit nicht mehr geraucht werden darf, müssen eventuelle Lungenkrebskranke an ihrem Schicksal selbst schuld sein, so dass sie ihre Behandlungskosten auch selbst tragen müssen.

Die so oder so Betroffenen glauben am Ende selbst an diese Effizienzlogik und verzichten auf ihre vitalen Bedürfnisse zugunsten der Vorsorge. Für die Bereitschaft, diese politischen Verschiebungen hinzunehmen, ist, so Pfaller, ein defizitäres Lustempfinden verantwortlich, das in Narzissmus mündet. Mit der Folge, dass Menschen „nur noch ihr Eigenstes wollen und nichts Ichfremdes mehr an sich ertragen“ – und Lust nicht mehr als Lust erfahren können.

Die Befangenheit im Narzissmus sieht Pfaller nicht nur als Folge neoliberaler Ideologie, sondern letztlich auch als Auswuchs der Philosophie des Idealismus, der er ein streng materialistisches Programm entgegensetzen will. Ausgehend von der Überzeugung, dass wir, anders als im Idealismus angenommen, nur diese eine Welt haben und sie daher notgedrungen auch die beste ist (wenn auch nicht beste aller möglichen Welten), versucht Pfaller den Materialismus als Widerstandsform gegen ein schlechtes Leben in dieser einzigen verfügbaren Welt in Stellung zu bringen.

Dazu führt er etwa die politische Dimension der Komödie als „Kunst, das Glück zu ertragen“, ein oder erläutert im Rückgriff auf Nietzsche, inwiefern der Neid als Form des Ressentiments zur Verhinderung von Glück bei gleichzeitiger Verfestigung des Narzissmus dient. Und wie es sich für eine Abhandlung über Dinge, für die es sich zu leben lohnt, gebührt, kommt Pfaller abschließend auf die Nahrung als Vorbild aller Freuden zu sprechen.

Pfaller, der von akademisch gelehrter Schwerfälligkeit wenig hält, hat ein leicht zu lesendes Buch geschrieben, in dem er mit Leidenschaft die materialistische Sache vertritt. Dass er idealistische Denker wie Kant oder Stoiker wie Seneca als lebensfeindliche Antagonisten aufbaut, trägt hingegen etwas stark schematische Züge. Sein Plädoyer für ein Leben vor dem Tod hätte dieser vereinfachenden Polarisierung gar nicht bedurft.

Robert Pfaller: „Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie“. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2011, 320 Seiten, 19,95 Euro