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Archiv-Artikel

„Stell dir vor, sie schließen die BBC“

GRIECHENLAND In Athen wurde der öffentlich-rechtliche Rundfunk ERT besetzt – nachdem die Regierung ihn handstreichartig schließen ließ

„Wir bekommen kein Geld von der Regierung. Wir finanzieren unsere Arbeit über die Rundfunkbeiträge der Menschen, das ist ihr Sender“

PANDORA MURIKI, ERT-DIREKTORIN

AUS ATHEN EVA VÖLPEL

„Damit dürfen sie nicht durchkommen, wir bleiben so lange wie nötig.“ Der 25-Jährige George Muketis spricht aus, was viele auf dem seit Dienstagabend besetzten Gelände des öffentlich-rechtlichen Rundfunksenders ERT denken. Er hatte im Fernsehen davon erfahren, dass Griechenlands einzige öffentliche Rundfunkanstalt geschlossen werden soll. Weinende Moderatoren hatten am frühen Dienstagabend davon berichtet. Bereits wenige Stunden später kappte die Polizei im ganzen Land die Signale von ERT. Vier Fernsehprogramme, vier Digital-Fernsehprogramme sowie 29 Radiosender sollten stumm bleiben. Rund 2.700 Journalisten, Technikern und Verwaltungsangestellten droht die Arbeitslosigkeit.

Rundfunk seit 1938

Die Empörung über diesen handstreichartigen Coup der Regierung unter Ministerpräsident Andonis Samaras und seiner konservativen Partei Nea Dimokratia (ND) hatte innerhalb weniger Stunden Tausende Athener zum ERT-Hauptgebäude im Stadtteil Agia Paraskevi im Nordosten Athens getrieben, um für den Erhalt des seit 1938 bestehenden Rundfunks zu demonstrieren. „Stell dir vor, sie schließen die BBC und kündigen es sechs Stunden vorher an“, fasst Demonstrant Muketis die Situation zusammen.

Die Menschen sind gekommen, um zu bleiben – die ganze Nacht. Jung und Alt, Gewerkschafter, Medienarbeiter, empörte Athener Bürger, Studenten – und die linken Oppositionsparteien inklusive etlicher Parlamentsabgeordneter. Rund 6.000 Personen haben sich in der Nacht zu Mittwoch stundenlang auf dem ERT-Gelände aufgehalten.

Für die Regierungspartei ND, die die Schließung per Notstandsdekret am Parlament vorbei verfügte, ist der ERT ein Hort „unglaublicher Verschwendung“, sagte ein Regierungssprecher, also müsste er umgehend geschlossen werden. „Es kann keine heiligen Kühe geben, die nicht geschlachtet werden können, wenn überall gespart wird.“ Ab Ende August soll laut Regierungssprecher eine neue Institution senden – unter dem Namen NERIT und mit nur noch 1.200 Angestellten.

Die meisten Athener und Athenerinnen, die zum Sender gekommen sind, stellen gar nicht in Abrede, dass der Rundfunk von den beiden großen Regierungsparteien der letzten Jahrzehnte, der ND und der sozialdemokratischen Pasok, als Ort missbraucht wurde, um Parteifreunde auf Posten unterzubringen. „Ja, man muss ERT reformieren, aber ganz sicher nicht so“, sagt Pandora Muriki.

Die zierliche Frau steht in der Eingangshalle von ERT. „Ich habe hier 29 Jahre gearbeitet. Ich bin Programmdirektorin für die Dokumentarfilmsparte und das Kulturprogramm. ERT ist nicht nur Vetternwirtschaft. ERT ist der einzige Sender, der griechische Dokumentarfilme und Kinofilme produziert, Kinderfilme. Wir haben ein Orchester, wir sind die öffentlich-rechtliche Stimme der Nachrichten. Das meiste wird es mit einem neuen ERT so alles nicht mehr geben“, glaubt sie. „Wir machen keine Schulden hier, wir bekommen kein Geld von der Regierung. Wir finanzieren unsere Arbeit über die Rundfunkbeiträge der Menschen, das ist ihr Sender“, sagt Muriki.

Generalstreik geplant

Die Nachricht davon, dass die beiden großen Gewerkschaftsdachverbände Griechenlands vielleicht schon für diesen Donnerstag zu einem 24-stündigen Generalstreik aufrufen, macht mitten in der Nacht zu Mittwoch die Runde. Der Streik der Medienarbeiter ist da schon beschlossene Sache: Seit Mittwoch 6 Uhr streiken in Griechenland landesweit die Journalisten der privaten TV-Sender, Zeitungen und Radiostationen. Einige ERT-Beschäftigte senden via Livestream übers Internet weiter.

Viele Demonstranten interpretieren die ERT-Schließung als Buckeln der ND vor der Troika aus Europäischer Zentralbank (EZB), Internationalem Währungsfonds (IWF) und EU-Kommission, die derzeit die Sparmaßnahmen der Regierung evaluiert. Die Kommission erklärte, dass sie die Schließung nicht verlangt habe, „auch die Befugnis der griechischen Regierung nicht infrage“ stelle.

Viele rätseln, warum die ND so radikal agiert und die Koalition riskiert. Die beiden kleineren Koalitionspartner, die sozialistische Pasok und Demokratische Linke (Dimar) hatten sich gegen die Schließung von ERT ausgesprochen. In 40 Tagen muss im Parlament nachträglich über die Schließung abgestimmt werden – und die ND braucht ein paar Stimmen der Partner.