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Archiv-Artikel

Überall und nirgendwo

FERNSEHEN Eine Regisseurin versucht einen namibischen Freund wiederzufinden, der nach seiner Abschiebung aus Deutschland im Jahr 1990 in Afrika verschwand (ZDF, 0.10 Uhr)

Angelika Levi verknüpft die Geschichte des Freundes mit den Fluchtgeschichten derer, die sie trifft

VON JULIA FRITZSCHE

„In diesem Film gibt es keine Hauptdarsteller. Benji, der es hätte sein sollen, ist verschwunden“, sagt die Autorin Angelika Levi zu Beginn des Films. Dieses Dilemma veranlasst sie dazu, sich auf die Reise zu machen. Auf eine Spurensuche nach Gründen für sein Verschwinden.

Zwischen Namibia, Spanien und Mecklenburg-Vorpommern verknüpft sie assoziativ die Geschichte des Flüchtlings Benji mit den Fluchtgeschichten derer, die sie unterwegs trifft.

Als Publikum driften wir zwischen Episoden und Kontinenten hin und her. Mit Wackelkamera und verstörenden Schnitten wird uns die Orientierung genommen. So wie die Flüchtlinge in ihren unzähligen Fluchtversuchen und Abschiebungen zwischen Europa und Afrika hin und her geworfen werden, befinden auch wir uns gleichzeitig überall und nirgendwo.

Und so passiert etwas Unerwartetes. Ohne Koordinatensystem im Kopf, dem eigenen Standpunkt entzogen, können wir nicht anders, als unvoreingenommen die Geschichten der Menschen anzuhören.

In erster Linie die des verschwundenen Benji. 1979, mit drei Jahren, war der Namibier als Flüchtling in die DDR gekommen und hatte dort die Schule besucht. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 schiebt die Bundesrepublik Benji ab, und im Senegal wird er an angolanische Rebellen verkauft. Alte Aufnahmen zeigen, wie der afrikanische Junge Marx zitiert und sich über seine sozialistischen Lehrer lustig macht.

Neben den einzelnen Geschichten reflektiert Levi auch über fragwürdige entwicklungspolitische Entscheidungen und die Sprache, die im Zusammenhang mit den Flüchtlingen gebraucht wird. „Repatriierte“ heißen zum Beispiel Menschen wie Benji. Ein peinlich euphemistischer Ausdruck für die, die von den europäischen Regierungen abgeschoben werden.

Aber nicht nur Flüchtlinge lernen wir kennen, sondern auch Touristen auf Teneriffa, die landende Bote beobachten, und die EU-Grenzschützer von Frontex, die in den Gewässern vor der Insel nach den „Bad Guys“ Ausschau halten.

Durch diese Perspektivwechsel befinden wir uns ständig zwischen allen Stühlen. Was sagen, wenn ein senegalesischer Bootsbauer in die Kamera sagt: „Bitte gebt uns ein bisschen von euren Milliarden ab, damit wir überleben können.“

In einem Madrider Apartment ahmen zwei Senegalesinnen, die als Putzkräfte im Prado arbeiten, kichernd Posen von berühmten Gemälden nach. Bekannte haben ihnen die spanischen Visa, die per Los verteilt worden waren, überlassen, weil sie sie selbst als „Repatriierte“ nicht annehmen durften.

Ja. Fast jede dieser Geschichten könnte einen eigenen, herkömmlich strukturierteren Film ergeben. Aber hier passt das haltlose Driften zu diesem Werk über Flucht und Verschwinden.

Und mit diesem verstörenden Stimmungsbild kriegen wir eine leise Ahnung davon, was es heißt, irgendwie nirgendwo zu sein. Absent präsent eben.