: Eine Droge für jedermann
KONSUM Es steckt im Pullover, in Tabletten, im Computer und im Gemüse. Unser Alltag ist geprägt vom Öl und den Dingen, die man daraus macht. Dafür werden täglich 10 Millionen Tonnen des Rohstoffs aus dem Boden geholt
VON MARIA ROSSBAUER
Wer im Moment in Louisiana wohnt, entkommt dem Öl nicht. Der Ölteppich im Golf von Mexiko ist mit mehr als 25.000 Quadratkilometern inzwischen fast dreimal so groß wie das Wattenmeer. An die 3.400 Tonnen Rohöl strömen seit der Explosion der Öhlbohrinsel „Deepwater Horizon“ täglich ins Meer. Das Öl tötet Fische und Vögel, stürzt Menschen in Existenzängste. Annähernd 20.000 Arbeiter sind in den USA im Einsatz, wollen das Öl irgendwie loswerden. Gut, dass wir weit weg von all dem sind. Doch das stimmt so gar nicht: Auch wir sind umgeben von Öl. 108.055.708 Tonnen Rohöl haben wir letztes Jahr insgesamt in Deutschland verbraucht. Das entspricht einem Gewicht von 22 Millionen Elefanten. Das meiste davon, etwa 90 Prozent, blasen wir einfach in die Luft: als Autotreibstoff, zum Heizen und um Maschinen in den Industrien anzutreiben.
Doch Erdöl landet nicht nur im Ofen und im Auto, sondern auch im CD-Regal, in unseren Klamotten und sogar im Kühlschrank. Und das geht so: Erdöl ist eigentlich ein Sammelsurium aus vielen unterschiedlichen Bestandteilen. Mindestens fünfhundert verschiedene Verbindungen, hauptsächlich aus Kohlenstoff und Wasserstoff, sind darin enthalten. In Rohform können wir das Öl für gar nichts gebrauchen. Um die Stoffe also alle auseinanderzupflücken, verwenden die Menschen in der Raffinerie der Erdölfirma einen Trick: Alle Verbindungen im Rohöl kochen nämlich bei unterschiedlichen Temperaturen. So kann man in einem hohen Turm die Einzelbausteine aus dem erhitzten Öl der Reihe nach abfangen: Benzin und Diesel für die Autos, Heizöl, Petroleum für die Lampen und Kerosin, den Flugzeugsprit. Fraktionierte Destillation nennt sich dieses Verfahren.
Dabei wird noch ein besonderer Stoff abgetrennt: Naphtha, das Leichtbenzin. „Naphtha ist der Grundstoff für fast alle chemischen Produkte“, sagt Manfred Ritz vom Verband der Chemischen Industrie, VCI. Ritz beschäftigt sich nahezu täglich mit dem Rohstoff, denn 90 Prozent von allem, was in Deutschland in Firmen chemisch hergestellt wird, hat Erdöl zur Grundlage. Jede Firma will es haben: zum Erhitzen, Pressen, Zerstückeln und Wiederzusammensetzen, um es mit Wasser zu bedampfen oder zu Ringen zu formen. Erst so kommen all die Bausteine heraus, die sich später in unseren Wohnungen wiederfinden.
Zum Beispiel in der Plastikflasche im Kühlschrank. Sie ist aus Polyethylenterephthalat (PET) geblasen, einem der robustesten aller Kunststoffe. Erdölanteil: annähernd 100 Prozent. Die CDs im Regal sind aus Polycarbonat. Erdölanteil: mindestens 80 Prozent.
Und sogar in den Klamotten finden sich Ölbausteine: Auf dem Etikett eines H & M-Pullovers steht 80 Prozent Baumwolle, 18 Prozent Polyamid, 2 Prozent Elastan. In der Baumwolle ist zunächst einmal kein Öl enthalten, die beiden anderen Stoffe sind jedoch Kunstfasern, die auch aus Ölbestandteilen gemacht sind. Erdölanteil des Pullovers: immer noch 20 Prozent.
Schließlich sogar die Aspirin-Tablette. Deren Wirkstoff ist die Acetylsalicylsäure, und selbst darin ist ein aus Öl gewonnener Baustein enthalten, das Benzol. Erdölanteil pro Aspirin-Tablette: 35 Prozent. Ganz exakt kann man den Ölanteil in all diesen Dingen nicht berechnen: Hunderte von chemischen Reaktionen mit Hilfsstoffen und Zusätzen ergeben schließlich eine Aspirin-Tablette.
Und damit immer noch nicht genug: Shampoo, Waschmittel, Seife, Haarspray, Zahnbürste, Autositz, PVC-Fußboden, Eimer, Folien, Matratzen, Kreditkarte, Computergehäuse, Display, Farben, Tüten, Fensterrahmen, Vaseline – die Liste ist endlos. Es ist wahr: Wir sind umgeben von Öl.
Doch selbst das scheinbar harmlose Gemüse käme ohne Erdöl nicht in unseren Kühlschrank. Vor allem wenn der Spargel im Februar aus Mexiko kommt und die Bohnen im Dezember aus Asien. Denn für den Transport von eingeflogenem Gemüse wird durchschnittlich 48-mal mehr Erdöl verbraucht als bei Gemüse aus der Region. So stecken in einem Kilogramm Gemüse oder Obst aus Übersee indirekt 4 bis 5 Liter Erdöl.
Aber nicht nur das Einfliegen außerhalb der Saison schlägt auf die Erdölbilanz von Obst und Gemüse: In fast allen Produktions- und Ernteschritten spielt Öl eine Rolle. Bauern pflügen Felder mit Traktoren, die Diesel verbrauchen, sie ernten das Obst mithilfe von Maschinen, beheizen die Treibhäuser. Mit einem Kilogramm Gemüse aus dem Treibhaus kaufen wir zwischen 0,5 und 1 Liter Erdöl mit, bei Freilandprodukten aus der Region immerhin bereits 0,1 bis 0,3 Liter.
Was also vor Millionen Jahren unter enormem Druck und mithilfe von Bakterien entstand, ist heute aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Unser Luxus ist abhängig von Öl. Und deshalb wollen wir mehr und mehr davon: die Ölförderanlagen der Welt laufen auf Hochtouren, wir suchen Erdöl an immer abgelegeneren Orten: im Eis, in der Wüste oder tief unter der Meeresoberfläche. Täglich werden weltweit mehr als 10 Millionen Tonnen Erdöl aus dem Boden geholt.
Doch irgendwann ist die Ressource erschöpft: Erdöl wird bald knapp. Wenn es so weit ist, werden auch die CD und das Aspirin zum Luxusgut. Für Autos und Heizungen gibt es schon Alternativen, für Plastik nicht: Materialien aus nachwachsenden Rohstoffen sind nicht so robust, sie zersetzen sich früher oder später.
Kaum ein Rohstoff also hat unser Leben so geprägt. Ohne Öl gäbe es keine Computer, schon gar keine Laptops. All die neuen Techniken – Computergehäuse, LCD-Bildschirme und mobile Spielkonsolen – basieren letztlich auf Bausteinen aus Rohöl. Öl wärmt uns, kleidet uns, bewegt uns von einem Ort zum anderen – Öl bestimmt unser Leben. Ob wir wollen oder nicht, wir sind abhängig davon.