: Zwei Stimmen mit Wanderlust
FOLK Heranwachsen, herumstreunen und dabei entdecken, dass alles vergänglich ist: First Aid Kit alias Johanna und Klara Söderberg auf ihrem neuen Album „Stay Gold“
KLARA SÖDERBERG
VON HENGAME YAGHOOBIFARAH
Im US-Provinznest Omaha, Nebraska, verbrachten Johanna und Klara Söderberg, bekannt als die Band First Aid Kit, fünf Wochen im Studio und nahmen zehn Songs mittleren und ruhigen Tempos auf. Das goldene Thema legt sich nicht nur wie ein Film auf das ländliche Albumcover, sondern zieht es sich auch klangtechnisch über alle Tracks. Könnten Tonspuren vergoldet werden, würden sie diesen Sound haben. Die Stimmen und die Gitarren erwecken Vorstellungen an schwüle Tage in den Südstaaten, aber auch an Reinheit und Unschuld.
Dass die beiden Schwestern Anfang zwanzig sind, schließt nicht aus, dass es sich mittlerweile um ihr drittes Album handelt und sie mit Stars wie Jack White, Lykke Li und Bright Eyes auf Tour waren. Gerade letztere Band hatte einen großen Einfluss: Nach einem Solo-Konzert von Conor Oberst, Frontmann der Indie-Folk-Band Bright Eyes, schaffen die Schwestern es hinter die Bühne und drückten ihm ihr erstes Album in die Hand. Das war der Beginn einer fortdauernden Zusammenarbeit.
In einem lichtdurchfluteten Zimmer des Berliner Michelberger Hotels treffe ich First Aid Kit zu einem Interview. Links sitzt Johanna breitbeinig auf dem Sofa, ihre langen dunklen Haare umrahmen ihr Gesicht wie ein Vorhang, bis knapp über die Augen hängt ihr gerader Pony. Mit ihrem schwarzen Outfit – einem T-Shit und einer Röhrenjeans – und ihrem müden Blick könnte sie auch die Gitarristin einer wilden All-Grrrl-Rockband sein. Klara, rechts von ihr, erinnert an eine unschuldige Figur aus einer Mittsommer-Saga: Auf ihrem blonden lockigen Haar thront ein Stoffblumenkranz, ihr weißes Kleid flattert bis zum Boden.
Einen stärkeren Kontrast in ihrer Ästhetik hätten die beiden kaum setzen können. Wie ist es eigentlich, als Schwestern so viel Zeit miteinander zu verbringen? „Es ist scheiße, es ist das Schlimmste“, ächzt Klara. „Wir hassen uns“, legt Johanna nach, ihre Stimmen klingen ernst genug, um es ihnen abzukaufen.
„Nächste Frage!“ Sie lachen beide. „Nein, es ist toll“, gibt Klara zu. „Es fühlt sich gleichzeitig komisch und schön an, mit einer Person zusammenzuarbeiten, die dich so gut kennt. Immer im Rampenlicht zu stehen ist sehr anstrengend, da tut es gut, sich die Verantwortung teilen zu können. Manchmal hast du es satt, deine eigene Stimme zu oft zu hören. Und dann redet die andere einfach mehr und löst dich ab.“
Bei diesem Gespräch erzählt Klara ein bisschen mehr als Johanna, doch die Redeanteile wirken ausgeglichen. Gemeinsam erscheinen die Schwestern als ein souveränes Gesamtpaket, trotzdem entsteht keine Sekunde lang das Gefühl von Absprachen. Sie unterbrechen sich gegenseitig, der Dialog fühlt sich intuitiv an. Sie befinden sich mitten im Prozess des Erwachsenwerdens, das ist auch auf der Platte zu hören.
Der „Waitress Song“ handelt davon, über alle Lebensentwürfe nachzudenken, die sie hätten leben können, und zeigt darin das Problem ihrer Generation auf. Es ist zwar ein Privileg, so viele Wege gehen zu können, gleichzeitig ist das Repertoire an Möglichkeiten in erster Linie überfordernd. Der große Raum für Zweifel hängt an jeder Entscheidung, er kann so bedrückend sein, dass mensch schon mal in Stagnation und Ratlosigkeit verfällt.
Sehnsucht nach etwas
Kein Wunder, dass der Wunsch nach Veränderung sich so stark durch die Lieder zieht. Wanderlust ist die Konstante. „Die meisten Leute haben dieses Bedürfnis zu entdecken und zu fliehen, vor allem und vor sich selbst wegzulaufen. Es ist eine Sehnsucht nach etwas. Und du weißt nicht immer, was dieses Etwas ist und ob du es je finden wirst. Aber du setzt deine Suche fort.“
Womit wir zum Hauptmotiv kämen: Alles ist vergänglich. Auch das löst unterschiedliche Gefühle bei den Schwestern aus. So sehr Stagnation bedrückend sein kann, Zukunfts- und Verlustängste begleiten sie genauso sehr wie die Neugierde. An einem festen Ort waren sie dennoch schon lange nicht mehr. Thematisiert wird auch dieser Widerspruch, stets in Bewegung sein zu wollen und gleichzeitig Ruhe und Rast zu suchen.
„Wir singen ja auch darüber, vor Dingen wegzulaufen. Es ist mehr das Weglaufen vor sich selbst als vor einem bestimmten Ort“, so Klara. Das klingt stark nach Sinnsuche. Obwohl sie nicht religiös ist, hört Johanna gern christlichen Folk. Die traditionellen Werte des Genres passen nur bedingt zur feministische Haltung der beiden Schwedinnen, jedoch ist ein hohes Identifikationspotenzial vorhanden. „Viele der beschriebenen Gefühle sind universell. Wir haben uns alle schon mal verloren gefühlt. Ich muss politisch nicht gleicher Meinung sein wie die Interpreten und kann die Musik trotzdem mögen.“
Schließlich gibt der Song „Heaven Knows“ viel Raum für eine religiöse Interpretation. „You have no idea who you are but heaven knows“ heißt es, die Implikation einer Suche nach etwas Größerem bietet für religiöse Folk- und Country-Fans Anschlussfähigkeit.
Apropos Bedeutung: Die Musik von First Aid Kit ist tatsächlich eine Art Erste-Hilfe-Kasten. „In erster Linie für uns selbst“, bestätigt Klara. „Weil das Schreiben unsere Strategie ist, Erlebnisse und Gefühle zu verarbeiten. Aber einzelne Fans sind schon auf uns zugekommen und haben uns erzählt, dass unsere Musik ihnen hilft. Das ist das größte Kompliment, das wir wohlmöglich bekommen können.“
Dass die Ermächtigung der Schreiberinnen für das Publikum eine ähnliche Wirkung hat, ist an sich ein noch größeres Empowerment für die Band. „Es ist eine Geben-und-Nehmen-Beziehung. Wir helfen uns selbst damit, darüber zu schreiben, eine andere Person fühlt, dass es ihr auch hilft, und dann wird ein negatives Gefühl in etwas Positives umgewandelt.“
Musik als Mittel der Selbsttherapie – kein Phänomen jüngerer Generationen. Was allerdings schon ein solches Phänomen wäre, ist, dass die Schwester ihren Erfolg vermutlich YouTube zu verdanken haben. Vor sechs Jahren luden sie ihre Coverversion des „Tiger Peasant Mountain Song“ der US-Folk-Band Fleet Foxes hoch und erreichten Millionen von Aufrufen.
■ First Aid Kit: „Stay Gold“ (Columbia/Sony)
Live: 8. August, Haldern Pop Festival