: „Wunschträume sind verheerend“
FURCHT Viele Menschen haben heute ähnliche Ängste wie vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, sagt der Psychologe Stephan Grünewald. Sie fühlten sich wie in einem Vampirfilm. Nur sei der Vampir noch nicht da
■ Jahrgang 1960, studierte in Köln Psychologie und leitet seit 1997 das dort ansässige Rheingold-Institut, ein Marktforschungsunternehmen, das mit psychologischen Tiefeninterviews arbeitet. 2013 veröffentlichte Grünewald das Buch „Die erschöpfte Gesellschaft. Warum Deutschland neu träumen muss“ (Campus, 19,99 Euro).
INTERVIEW JAN FEDDERSEN
taz: Herr Grünewald, Sie diagnostizieren in Ihrem Buch „Die erschöpfte Gesellschaft“ ein verzagtes Land – mit einer Angela Merkel als Kanzlerin ohne Alternative. Worin ist diese Erschöpfung begründet?
Stephan Grünewald: Eine Quelle dieser Erschöpfung ist eine diffuse Zukunftsangst. Viele Menschen haben das Gefühl, die Kultur des „Höher, schneller, weiter“, also des Kapitalismus, ist an ein Ende gekommen. Doch was kommen könnte, ist unklar – ihnen, uns allen erscheint Zukunft wie ein schwarzes Loch.
Und Angela Merkel konnte die Heilsbringerin sein?
Nein, sie bedient die Sehnsucht nach Verlässlichkeit. Die Wahl konnte sie gewinnen, weil sie den Menschen das Versprechen einer permanenten Gegenwart gegeben hat. Sie war der nationale Ruheengel, sie hat deutlich gemacht: „Mit mir passiert nichts, ich sorge dafür, dass die Besitzstände gewahrt werden. Ich konfrontiere euch nicht mit neuen Visionen, ich werde alles im ruhigen Fahrwasser halten.“
Und wer war Peer Steinbrück?
Er wirkte wie das personifizierte Restrisiko. Bei ihm war nicht klar, wohin er steuert – und warum er überhaupt irgendwohin steuern will.
Woher rührt diese Zukunftsskepsis, diese „German Angst“, wie sie in den USA genannt wird?
In den sechziger Jahren hatten wir noch eine weitgehend stabile, betonierte Gesellschaft. Die Jugend brach damals auf, weil sie das Gefühl hatte, an diesen Verhältnissen zu ersticken. Das Feindobjekt dieser Zeit war die Eichenschrankwand der Eltern. Die hatte in ihrer massiven Unverrückbarkeit etwas von einer Frühversargung – man umgibt sich schon zu Lebzeiten mit dem Material, das einen ins Jenseits trägt.
Nicht unverständlich nach den Jahren, da der Nationalsozialismus eben erst vorbei war – und die Erinnerung an diesen unter der Decke gehalten werden musste.
Ja, denn das Antriebsmoment des Aufbruchs war: Wir müssen aus diesen unverrückbaren Verhältnissen raus und offener, kleiner, beweglicher werden. Der ästhetische Siegeszug von Ikea begann damals – Möbel wurden kombinierbarer, beweglicher. Wie das Leben überhaupt.
Und heute?
Unsere Tiefeninterviews zeigen heute, dass nach all den Jahren der Mobilität vor allem die Jugend das Gefühl hat, in einer brüchigen, zerrissenen Welt zu leben, in der auf nichts Verlass ist. Das fängt in den Familien an – junge Menschen erfahren, dass Familien auseinanderbrechen, Mütter ihre Kinder alleine erziehen und Patchworkfamilien entstehen.
Hat sich damit auch das Bild der Männer verändert?
Sie gelten oft als weniger verlässlich. In den Familien wie in der Politik sehen wir Männer oder Vaterfiguren, die sich davonmachen.
Inwiefern?
Wir hatten zwei Bundespräsidenten, die vor ihrer Zeit gingen. Köhler desertierte überraschend, Wulff musste gehen. Und selbst der Obervater, der Heilige Vater, trat erstmals nach Jahrhunderten zurück, weil er die Verantwortung nicht mehr schultern wollte. Trauriges Sinnbild der desertierenden Vaterfiguren ist der Kapitän der „Costa Concordia“, der sich mit als Erster von Bord machte.
Aber es ist doch gut, ein Zeichen der Emanzipation, dass Männer nicht mehr Helden des Durchhaltens sein müssen.
Ja, aber der Eindruck verdichtet sich, dass wir nicht mehr wissen, auf was wir bauen und vertrauen können. Werfen Sie einen Blick auf die Beststellerliste – sie ist symptomatisch: Einer der Toptitel ist immer noch „1913“ von Florian Illies. Hier wird auch eine Übergangszeit geschildert – die zum Ersten Weltkrieg führte.
Die Menschen haben ähnliche Ängste?
Ja, all unsere Untersuchungen besagen genau dies: Wir leben in einer Zeitenwende. Und die Ängste vor dem Verlust unserer bisherigen Lebensweise überwiegen derzeit die Neugier, die Zukunftslust und die Entwicklung neuer Visionen.
Woher rührt das? Deutschland ist, im Vergleich mit Spanien oder Griechenland, nicht in einer ökonomischen Krise.
Paradoxerweise sind Krisenängste größer, wenn die Krise noch nicht da ist, wenn sie nur wie in Deutschland ein mediales Drohgespenst ist. Wenn die Krise dann tatsächlich präsent ist, dann hat sie ein Gesicht, dann kann man aktiv werden.
Können Sie das erklären?
Das ist ein ähnlicher Mechanismus wie in Vampirfilmen. Das Grauen ist am größten, solange der Vampir noch nicht im Bild war. Wenn man ihn erst mal sieht, wird die Gefahr fassbar, man weiß dann, was man dagegen machen kann. Wir aber sind noch im Vorkrisenstadium. Mein zweiter Erklärungsansatz ist, dass die Deutschen keine feste nationale Identität haben. So wie die Amerikaner oder Franzosen. Sie ist ein Schutzband, sie gibt Zuversicht. Der amerikanische Traum lautet ja: Selbst wenn du ganz unten bist, heißt es, sorge dich nicht, lebe und kämpfe und komme wieder nach oben.
Und Deutsche?
Sind Ewigsuchenende, Ewigzweifelnde, Ewigträumende. Dieser innere Hader führt zur German Angst. Andererseits ist dieses Hadern, Grübeln und Umträumen auch die Quelle unserer Schöpferkraft – Deutsche hinterfragen immer alles, lassen nichts einfach so stehen, verstehen die Welt nicht als gegeben. Doch das Schöpferische scheint mir momentan lahm gelegt. Wir dynamisieren das Hamsterrrad, wir arbeiten oder konsumieren bis zur Erschöpfung. Denn durch diese besinnungslose Betriebsamkeit geraten unsere Ängste und Probleme aus dem Blick. Aber auch unsere Träume.
Gibt es Hoffnung?
Was wir beobachten, ist, dass immer mehr Menschen begreifen, dass noch mehr Effizienz nicht geht. Der Erfolg der Zeitschrift Landlust ist ein Indiz, dass auch Männer anfangen, ihrer Familie Raum zu geben – und nicht mehr unhinterfragt ein Leben im Business führen wollen. Diese Zeitschriften – auch Mare zählt dazu – symbolisieren ein Hin zu den natürlichen Rhythmen des Lebens, zu einem sanften Umgang mit Natur überhaupt. Hier entwickeln sich neue Sensibilitäten.
Mag sein, dass es die Ältergewordenen …
… nein, junge Leute machen das Getriebensein auch nicht mehr mit: Viele sind für dieses Hamsterrad nicht mehr verführbar. Guerillagardening, die Renaissance der Schrebergärten – das sind Phänomene, die wir ernst nehmen können, gerade wenn sie von jungen Menschen kultiviert werden. Sie fragen: Wofür will ich eigentlich leben, was sind meine Rückzugsräume? Das sind die Kernfragen von Menschen, die an dieser Gesellschaft erschöpft waren und es nicht mehr sein wollen.
Was wird 2014?
Die Große Koalition birgt die Gefahr, dass alles in Stabilität erstarrt. Für mich ist die zentrale Frage, ob wir in Zukunft das Land der Bürokraten und Workoholics sein wollen. Oder das Land der Träumer und Querdenker. Die Gabe, innere Unruhe über das Träumen in Schöpferkraft zu verwandeln, können wir nur entfalten, wenn wir aus dem permanenten Effizienzdiktat austeigen; wenn wir wieder Dehnungsfugen bei der Arbeit oder im Alltag zulassen. Ich plädiere in meinem Buch dafür, dass wir die Erwartungssicherheit des Hamsterrades aufgeben und wieder Mut zum Träumen entwickeln.
Aber birgt das Träumen nicht die Gefahr eines Albs?
Vor allem das nächtliche Träumen kann verhindern, dass unser Alltag zum Alb wird. Denn es konterkariert die Betriebsblindheit des Tages. Es legt den Finger in die Tageswunde und fordert zur kritischen Re-Vision auf. Darum ist das Träumen auch so anstrengend. Es stellt immer wieder den Status quo in Frage und fordert uns auf, das Leben zu ändern. Das Leben wandelt sich jedoch zum Albtraum, wenn wir die Relativität des Träumens nicht mehr akzeptieren und uns die Absolutheit eines Wunschtraums flüchten. Denn der Wunschtraum verspricht ein absolutes Ziel mit ewiger Gültigkeit für alle: das Tausendjährige Reich, das Paradies auf Erden, Forever Young sind Beispiele für verheerende Wunschträume, die eine eigene Besessenheit entwickeln und keine Korrekturen zulassen. Eine Gesellschaft wächst daher mit ihrer Fähigkeit zu träumen, aber sie geht unter durch ihre Flucht in einen absoluten Wunschtraum.