: Gratis fahren ist ein teurer Spaß
KOSTEN UND NUTZEN Die Piraten haben die alte Sponti-Forderung nach Nahverkehr zum Nulltarif gekapert. Eine charmante Idee, die kostet: Für die Finanzierung müssten neue Steuergelder fließen
■ In ihrem Wahlprogramm hatten die Piraten 2011 versprochen, ein Konzept für den kostenlosen Nahverkehr vorzulegen. Darin seien die „Kosten transparent und nachvollziehbar darzustellen“. Anderthalb Jahre später lässt dieses Konzept immer noch auf sich warten. Es gibt zwar eine Arbeitsgruppe „ÖPNV Ökosoziales Projekt Berlin“, doch die ist zerstritten. Über die Mailingliste der Arbeitsgruppe und per Blog giften sich die Piraten an, zu einer Krisensitzung wurde zuletzt sogar ein Mediator eingeladen.
■ Bisher liegt daher nicht mehr als ein erster Entwurf für die Finanzierung vor. Dabei gehen die Piraten davon aus, dass das Land jedes Jahr gut 800 Millionen Euro drauflegen muss, um Busse und Bahnen für alle Nutzer kostenlos zu machen. Aber wo käme das Geld her? Hier die Antwort der Piraten:
■ Die Grundsteuer soll um 61 Prozent steigen und so 461 Millionen Euro im Jahr einbringen – durchschnittlich 131 Euro pro Berliner. Entrichtet wird die Steuer von den Hauseigentümern, auf Mieter wird sie üblicherweise per Nebenkostenabrechnung umgelegt.
■ Sogar eine Steuer, die es noch gar nicht gibt, wollen die Piraten erhöhen. Die Citytax soll noch in diesem Jahr vom Parlament beschlossen werden. Touristen sollen dann 5 Prozent Extrasteuer auf jede Übernachtung im Hotel oder Hostel zahlen. Die Piraten wollen den Steuersatz verdreifachen – macht immerhin 40 Millionen Euro zusätzlich.
■ Die S-Bahn soll im Umland ebenfalls kostenlos unterwegs sein. Daher soll sich das Land Brandenburg mit 50 Millionen Euro an der Finanzierung beteiligen.
■ Auch die Gewerbesteuer soll steigen, allerdings nur um vergleichsweise moderate 20 Prozent. Bringt 250 Millionen Euro pro Jahr. (hei)
VON SEBASTIAN HEISER
Die Forderung klingt in vielen Ohren absurd, aber Berlins Piraten sind damit angetreten, und sie meinen es ernst: Der öffentliche Nahverkehr soll für seine Nutzer kostenlos sein. Keine Fahrkarten mehr, keine Automaten, keine überfallartigen Kontrollen. Einfach losfahren und ankommen. Wie kann das gehen? Kann es überhaupt gehen?
Was ein ticketloser Nahverkehr das Land zusätzlich kosten würde, lässt sich ziemlich genau beziffern: 881 Millionen Euro. So viel nahmen BVG und S-Bahn im Jahr 2011 durch den Fahrscheinverkauf ein. Sollte Berlin mit dieser Summe einspringen, müsste jeder Einwohner, vom Säugling bis zum Senior, rund 250 Euro pro Jahr zusätzlich an Steuern zahlen. Oder der Senat müsste die gleiche Summe an anderer Stelle einsparen. Oder die Verschuldung erhöhen, was aber nur bis 2020 möglich wäre. Danach greift die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse.
Kompliziert wird es, wenn man weitere Faktoren berücksichtigt. Das Land könnte die Haftplätze für Schwarzfahrer streichen. Wenn in den Knästen durchschnittlich 275 Schwarzfahrer einsitzen, macht das bei 134,75 Euro pro Gefängnistag immerhin gut 13 Millionen Euro Ersparnis. Auch die Fahrkartenautomaten würden nicht mehr gebraucht. Wenn man auf die verzichtet, holt das sicher auch noch mal etliche zehntausend Euro im Jahr rein.
Zudem könnten BVG und S-Bahn sich die Kosten für die Kontrollen sparen. Wie viel Geld das wäre, ist nicht bekannt. „Eine separate Kostenermittlung ist dazu nicht erfolgt“, teilt die BVG-Pressestelle mit. Aber schätzen kann man: Die BVG beschäftigt rund 100 Kontrolleure, die S-Bahn wohl weniger, macht über den Daumen gepeilt Personalkosten von 3 bis 5 Millionen Euro im Jahr. All das steht jedenfalls in keinem Verhältnis zum Einnahmeverlust von 881 Millionen.
Natürlich könnten die Unternehmen auch alle Mitarbeiter behalten, um die Fahrgäste wieder besser zu betreuen und für Präsenz auf den Bahnsteigen zu sorgen. Dann fielen aber die entsprechenden Personalkosten nicht weg. Und auf der anderen Seite entstehen durch einen ticketlosen Nahverkehr zusätzliche Ausgaben – weil mehr Menschen mit Bus und Bahn fahren. Wie stark die Nachfrage steigt, ist kaum seriös zu prognostizieren, es hängt stark von weiteren Rahmenbedingungen ab.
Weniger Lärm und Abgase
In Halle etwa stieg die Nachfrage um 18 Prozent. Dort hatten die Verkehrsbetriebe im September 2012 eine Woche lang Züge, Trams und Busse freigegeben – bei gleichbleibendem Angebot. Das Ergebnis: Statt wie üblich 148.000 Fahrgäste pro Tag waren nun 174.000 unterwegs.
Dauerhaft kostenlosen Nahverkehr gab es in Deutschland unter anderem in den brandenburgischen Städten Lübben und Templin, wo 1997 der deutschlandweit erste Modellversuch startete und großen Zuspruch fand. Die Projekte waren allerdings auf wenige Jahre befristet und sind aus Kostengründen längst ausgelaufen.
Im belgischen Hasselt dagegen sind die Busse seit 1997 durchgängig kostenlos. Die Hauptstadt der Provinz Limburg mit ihren rund 75.000 Einwohnern hat in diesem Zeitraum außerdem die Zahl der Parkplätze verringert, Straßen von vier auf zwei Spuren zurückgebaut und neue Buslinien eingeführt. Nutzten vorher 360.000 Fahrgäste pro Jahr die Busse, sind es jetzt über 4 Millionen.
Sprich: Wenn sich die sonstigen Bedingungen nicht ändern, müssten BVG und S-Bahn wohl nur wenige zusätzliche Fahrzeuge anschaffen. Schließlich ist das Platzangebot auch jetzt selten ausgelastet: in U-Bahnen durchschnittlich zu 18 Prozent, in Trams zu 17 und in Bussen zu 15,5 Prozent. Aufgerüstet werden müsste nur zu den Spitzenzeiten des Berufsverkehrs. Wenn das Land gleichzeitig Autofahren unattraktiver machte – durch Tempolimits, Spielstraßen oder Grünstreifen statt Parkplätzen –, dann allerdings bräuchte es größere Investitionen, auch in neue Linien.
Aber auch hier hört die Bilanz nicht auf: Je stärker der Autoverkehr abnimmt, desto stärker sinken auch seine Kosten für die Gesellschaft. Das Umweltbundesamt verweist auf eine Studie, wonach diese Kosten – bundesweit – bei 52 Milliarden Euro pro Jahr liegen. Etwa die Hälfte davon sind Unfallkosten, die bei Krankenkassen und Kfz-Versicherungen anfallen. Die anderen größeren Kostenblöcke entstehen durch Klimaerwärmung, Lärm und Luftverschmutzung.
■ Die Piraten wollen langfristig den kostenlosen Nahverkehr für alle, vorerst fordern sie aber nur den kostenlosen Nachtverkehr, um zu testen, wie die Nachfrage steigt. Zudem soll, solange die Nutzung von BVG und S-Bahn noch Geld kostet, das Schwarzfahren nicht mehr als Leistungserschleichung strafrechtlich verfolgt werden – die Piraten wollen den Senat auffordern, sich im Bundesrat für eine entsprechende Änderung des Strafgesetzbuches einzusetzen. Ihrer Ansicht nach reicht es, dass die Nahverkehrsunternehmen auf zivilrechtlichem Wege das erhöhte Beförderungsentgelt von 40 Euro eintreiben können.
■ Auch für die Grünen soll Schwarzfahren keine Straftat mehr sein, sondern eine Ordnungswidrigkeit – wie etwa Falschparken. Das soll verhindern, dass Menschen wegen Schwarzfahrens im Gefängnis landen.
■ Die Linke will nicht nur Schwarzfahren straffrei machen, sondern auch die anderen Formen der Leistungserschleichung. Wer sich ohne Ticket in Ausstellung, Kino oder Stadion mogelt, wer nach der Taxifahrt einfach abhaut – der soll nicht mehr von der Staatsanwaltschaft behelligt werden.
■ Die Koalitionspartner SPD und CDU finden dagegen den Status quo völlig in Ordnung. Alles soll bleiben, wie es ist. Der CDU-Abgeordnete Sven Rissmann etwa findet, dass „die Tat der Beförderungserschleichung nach wie vor strafwürdig ist“. Denn: „Ein kleiner Personenkreis von wenigen Prozent der Fahrgastteilnehmer schädigt die große Masse der Nutzerinnen und Nutzer des öffentlichen Personennahverkehrs.“ (hei)
Mit ihrer Forderung nach einem kostenlosen Nahverkehr stehen die Piraten ziemlich einsam da, nicht nur im Abgeordnetenhaus. Skeptisch ist beispielsweise auch der ökologisch orientierte Verkehrsverbund VCD. Sein Argument: Um den Nahverkehr attraktiver zu machen, ist nicht der Preis die entscheidende Stellschraube, sondern die Taktung der Fahrpläne und die Bequemlichkeit in den Fahrzeugen. Hier nachzulegen kostet vergleichsweise wenig.
Nicht mit der Gießkanne
Allerdings findet es auch der VCD wichtig, dass Menschen mit geringem Einkommen sich Mobilität leisten können. Daher lautet sein Ratschlag: Sozialtickets höher subventionieren. Dann verteilt man das Geld nicht mit der Gießkanne, sondern es kommt gezielt bei denen an, die darauf angewiesen sind.