: Die Verzweiflung der Anleger
FINANZEN Die deutsche Börse befindet sich auf einem historischen Höhenflug. Das ist nicht zwangsläufig ein Zeichen für wirtschaftlichen Aufschwung
VON ULRIKE HERRMANN
Der deutsche Aktienindex DAX hat am Freitag die Rekordmarke von 9.000 Punkten geknackt. Was bedeutet dies?
Der Höhenflug des DAX ist erstaunlich. In diesem Jahr sind die Aktienwerte bereits um 18,4 Prozent gestiegen – obwohl der DAX im Jahr 2012 auch schon um 30 Prozent zugelegt hatte. In nur zwei Jahren haben sich die Kurse fast verdoppelt.
Warum steigen die Aktienkurse so rasant?
Die Anleger sind auf der Flucht vor den niedrigen Zinsen. Diese werden von den Notenbanken weltweit nach unten gedrückt, um die Wirtschaft zu stimulieren. Also weichen die Investoren auf andere Anlageformen wie Aktien oder Immobilien aus, um dort höhere Renditen zu erzielen. Dieser Massenandrang treibt dann die Preise von Wertpapieren und Häusern nach oben.
Lohnt es sich jetzt noch, Aktien zu kaufen?
Eigentlich nicht. Denn die Renditen fallen: Die Aktienkurse steigen zwar – aber die Dividenden stagnieren. Im Jahr 2011 zahlten die DAX-Konzerne gemeinsam 26,4 Milliarden Euro an Dividenden. 2012 waren es 27,8 Milliarden Euro, und für 2013 wird mit 27,9 Milliarden Euro gerechnet. Wenn die Dividenden aber kaum zulegen, während die Aktienkurse explodieren, dann ist klar: Für die Neueinsteiger sinkt der Gewinn pro Aktie.
Warum werden trotzdem noch Aktien gekauft?
Viele Anleger interessieren sich gar nicht mehr für die Dividenden. Stattdessen hoffen sie, dass die Aktienkurse noch weiter steigen – und sie dann einen Gewinn mitnehmen können. Es handelt sich also um das typische „Herdenverhalten“. Das Prinzip ist immer das gleiche: Selbst wenn die Herde in die falsche Richtung trabt, ist es für den einzelnen Anleger lukrativ, mit der Herde mitzulaufen. Das Problem ist nur, rechtzeitig zu erkennen, wann man aus der Herde ausscheren und seine Aktien verkaufen muss. Denn irgendwann kommt es zum Crash.
Wann ist mit einem Crash zu rechnen?
Ein genaues Datum kann niemand nennen. Sicher ist nur, dass die Aktienkurse wieder fallen werden. Denn der jetzige Höhenflug basiert nicht auf harten ökonomischen Fakten, sondern auf reiner Psychologie. Die Industrieländer wachsen alle nur schwach. Dies gilt für die USA genauso wie für die Eurozone oder Japan. Genau deswegen halten die Notenbanken ja die Zinsen niedrig, um die Wirtschaft anzukurbeln. In Zeiten einer schwachen Konjunktur ist es aber absurd, dass die Börsen zu Höhenflügen abheben.
Wenn es zum Börsencrash kommt: Was passiert mit der Wirtschaft und den Jobs?
Auf den ersten Blick könnte man meinen, es sei weitgehend egal, was sich an den Börsen tut. So hat sich der DAX in den vergangenen zwei Jahren fast verdoppelt – aber die deutsche Wirtschaftsleistung ist in dieser Zeit nur um etwa 1,2 Prozent gewachsen. In der realen Welt hat der Aktienboom also keine Spuren hinterlassen. Umgekehrt könnte ein Börsenkrach genauso folgenlos bleiben. Einige Anleger würden zwar ihr Vermögen verlieren. Aber dieses Geld wäre nicht verschwunden, sondern hätte vorher einen anderen Anleger bereichert, der seine Papiere rechtzeitig verkauft hat.
Wann wird ein Börsencrash gefährlich?
Es kommt immer darauf an, wie der Aktienkauf finanziert wurde. Sehr gefährlich wird ein Börsencrash, wenn die Spekulanten Kredite aufgenommen haben, um Aktien zu erwerben. Diese Schulden lassen sich nicht mehr zurückzahlen, wenn die Börsen einbrechen, so dass dann auch Banken in die Pleite rutschen und die Wirtschaft kollabiert. Dieser Teufelskreis war in der Weltwirtschaftskrise ab 1929 zu beobachten.
Droht eine neue Weltwirtschaftskrise?
Die nächste Wirtschaftskrise wird wahrscheinlich nicht von den Börsen ausgehen. Denn diesmal werden die Aktien kaum auf Kredit gekauft. Die Anleger wollen ja ihr Erspartes retten und möglichst rentabel anlegen, statt neue Schulden zu machen. Viel gefährlicher als der Aktienrausch sind andere Spekulationsgeschäfte: Dazu gehört das Geld, das massenhaft in die Schwellenländer strömt, weil dort höhere Zinsen gezahlt werden. Sollte dieses Geld panisch wieder abgezogen werden, würde die Wirtschaft in den Schwellenländern zusammenbrechen. Es käme zu einer weltweiten Wirtschaftskrise – die dann auf die Börsen zurückwirken würde.
Warum heben die Notenbanken nicht einfach die Zinsen an, um die Spekulation zu beenden?
Was stimmt: Wenn die Zinsen steigen würden, hätte sich der Boom bei den Aktien und Immobilien sofort erledigt. Aber in den Industrieländern ist die Konjunktur zu schwach, um hohe Zinslasten tragen zu können. Angesichts des geringen Wirtschaftswachstums ist damit zu rechnen, dass die Notenbanken auch in den nächsten Jahren eine Niedrigzinspolitik betreiben werden.
Wie kann die Politik die Spekulation eindämmen?
Die Aktienblase zeigt, dass das Geld falsch verteilt ist. Reiche Anleger wissen nicht, wo sie ihr Vermögen sinnvoll investieren können – während die Reallöhne der Normalverdiener seit der Jahrtausendwende gefallen sind. Dieses Missverhältnis muss die Steuerpolitik korrigieren, wenn man Crashs verhindern will.