: Wissen und Bildung für alle
ZIVILGESELLSCHAFT Eine Unterhaltung mit Peter Finke über Citizen Science, das Wissen der Laien und die heutigen Akademien
VON GABRIELE GOETTLE
Dr. Dr. h. c. Peter Finke, emeritierter Professor für Wissenschaftssprach- und Kulturtheorie an der Universität Bielefeld. Nach dem Abitur studierte er Analytische Philosophie, Logik und Allgemeine Sprachwissenschaft in Göttingen, Heidelberg und Oxford (St. Catharine’s). 1977 Promotion in Wissenschaftsphilosophie an der Georg-August-Universität Göttingen. Habilitation 1979, Uni Bielefeld. Nach Wanderjahren als Privatdozent ab 1982 daselbst Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie, daneben 1995–1997 Gregory-Bateson-Professor für Evolutionäre Kulturökologie an der privaten Universität Witten/Herdecke. 2004 Dr. h. c. Universität Debrecen (Ungarn). 2007 hat er aus Protest gegen die unzumutbaren „Bologna- Reformen“ um vorzeitige Entlassung aus dem Staatsdienst gebeten. Peter Finke plädiert für Citizen Science als Weg zu einer emanzipierten Wissensgesellschaft. Er ist Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher Beiträge und einer Reihe von Büchern, zuletzt erschien „Citicen Science. Das unterschätzte Wissen der Laien“, München 2014. Peter Finke wurde 1942 in Göttingen geboren, sein Vater war Physiker und ist 1944 als Soldat auf der Krim ums Leben gekommen, die Mutter war Hausfrau. Er ist verheiratet und kinderlos.
Meine Begleiterin Elisabeth Kmölniger und ich sind mit Herrn Finke im Museum für Naturkunde in Berlin-Mitte verabredet. Er ist befreundet mit dem Generaldirektor des Museums, Johannes Vogel, welcher Herr ist über diese Wunderkammern mit ihren mehr als 30 Millionen Sammlungsstücken und uns für das Treffen freundlicherweise einen ruhigen Raum zur Verfügung gestellt hat. Von einer Verwaltungsangestellten mit sächsischem Akzent werden wir in einem der zahlreichen Längs- und Querflügel über steinerne Treppen und durch hohe, alte Flure nach oben geleitet in einen hellen, kleinen Raum mit eiserner Galerie. Er diente einstmals den Museumspräparatoren zu Demonstrationszwecken. Ein passender Ort für unser Thema, bei dem es ja auch um Rekonstruktion und Veranschaulichung geht. Auf unsere Frage, was genau man sich unter Citizen Science vorzustellen hat, erklärt Herr Finke:
„Diese Bewegung kommt aus dem angelsächsischen Raum, es gibt bisher nur verhältnismäßig wenig Literatur über die ‚Bürgerwissenschaft‘, und die ist vor allem in Amerika erschienen und in England. Die Amerikaner gehen mit Citizen Science eher pragmatisch um, sie sehen sie als professionell gesteuerte Bürgerbeteiligung an der wissenschaftlichen Forschung, als Möglichkeit, die Ergebnisse von Laien sozusagen kostenlos zu nutzen. Ich nehme allerdings eine etwas andere Perspektive ein. Mir geht es nicht primär um den Laienwissenschaftler als nützlichen Zulieferer für die Profiwissenschaft, sondern um ein anderes Verständnis dessen, was Wissenschaft ist und was ‚Bürgerwissenschaft‘ sein könnte. Ich plädiere sozusagen für eine Abrüstung des zu stark auf die Profi-Wissenschaft verengten und überhöhten Wissenschaftsbildes. Nur wenige der Wissenschaftler, die über Citicen Science schreiben oder sprechen, kennen sie auch aus eigener Erfahrung, aus der Innenansicht, als Mitglied einer Vereinigung forschender Laien. Ich schon – ich werde ihnen davon erzählen. Ich habe eine langjährige und bereichernde Citizen-Science-Erfahrung, und ich kann als Wissenschaftler auch ohne Probleme die Laienperspektive einnehmen. Mir geht es um den aufmerksamen und kenntnisreichen Menschen, der sich für das interessiert, was mitten im Alltag der Gesellschaft passiert, der Beobachtungen macht, Fragen stellt und nach eigenen Antworten sucht. Es geht um die ganz elementaren Dinge, die sind viel wichtiger für das Verständnis von Wissenschaft als die – ich sag’s mal überspitzt – Hervorbringung abstrakter Theorien, teurer Labors, komplizierter Fragestellungen und immer stärkerer Spezialisierung.
Statt dem bildungsmäßig einen Weg zu bereiten, wird von der Politik das genaue Gegenteil betrieben. Ich habe das schmerzlich erlebt. In den Jahren 2003, 2004, 2005 gab es an den deutschen Universitäten einschneidende Veränderungen, denn die Politik hatte den Wunsch, dass die Universitäten sich umstrukturieren. Und zwar vom Nordkap bis nach Sizilien, dass sozusagen ganz Europa nach ‚Schema F‘ vereinheitlicht wird. Die Grundidee, eine Verwaltungsvereinfachung herzustellen bei verschiedenen Systemen, die war sicher sinnvoll, aber sehr schnell lief das alles vollkommen schief, und dieses Korsett wurde auf unzumutbare Weise immer enger geschnürt. Das war für mich der Grund, unter Protest aus dem Staatsdienst auszuscheiden. Ich kann und will so keine Lehre machen, und ich hatte keine Lust, das mit zu vollstrecken, was die Politik da verordnet hat.
Die Politik selbst war stark unter Druck der Wirtschaft, die ja die Auffassung hat, die Leute sitzen viel zu lange in den Schulen und Universitäten rum. Gewünscht werden Leute, die kürzer ausgebildet sind und nach sechs Semestern mit übersichtlichen Kenntnissen auf einem bestimmten und gefragten Gebiet Verwendung finden – soweit sie gebraucht werden. Erschreckend war diese fast einhellige Einigkeit, europaweit. Auch an den Universitäten war der Widerstand schwach, und die meisten Kollegen fanden das sogar eine Chance und haben kein Problem damit gehabt. Nur eine Minderheit, glaube ich, hat die Probleme gesehen und benannt, und da gab es dann auch Meinungsverschiedenheiten. Das Irre ist ja, dass nichts so geschrumpft ist wie die freie Wissensaneignung, und nichts ist so angewachsen wie die Wissenschaftsbürokratie. Ein Kollege hat mir vor einiger Zeit gesagt, er sei gerade zum ‚Modulbeauftragten‘ gewählt worden. Ich sagte nur: dass ich das noch erleben darf, Modularisierung und Credit Points in der Wissenschaft! Dieses technische Denken hat sich vollkommen durchgesetzt, Studenten haben nur noch eine fragmentarische Ausbildung, müssen sich auf ein Teilgebiet konzentrieren. Was sie nicht bekommen, ist ein Verständnis des Zusammenhangs, sie kriegen nicht mehr die Zeit und die Anregungen, darüber nachzudenken. Das ist falsch!
Wichtige Errungenschaft
Aber zurück zu Citizen Science. Damit es keine Missverständnisse gibt: Ich bin kein Feind der Wissenschaft. Wissenschaft ist eine sehr wichtige Errungenschaft unserer kulturellen Geschichte, aber Wissenschaft ist nur eine der Möglichkeiten zum Erkenntnisgewinn. Was mir sehr wichtig ist, ist das, was in der Gesellschaft passiert an lebensnaher Wissenschaft. Beispielsweise in historischen Vereinen und Geschichtswerkstätten, in denen sich Leute, Hausfrauen, pensionierte Lehrer, Verwaltungsangestellte oder auch junge Leute treffen, um miteinander die Geschichte ihrer Stadt oder Region zu erforschen. Einfach deshalb, weil es sie interessiert. Oder in naturwissenschaftlichen Vereinen – da habe ich meinen zweiten Erfahrungshintergrund. Dort traf ich auf Leute, die mich stark beeindruckt haben mit ihrer Sachkenntnis, mit ihrer Kompetenz auf ihrem Gebiet.
Es gab da zum Beispiel einen versierten Vogelkundler, der konnte uns Vögel zeigen, eine bestimmte Ammerart, die inzwischen selten geworden ist, und die sangen in ‚Dialekten‘, der Endschnörkel war irgendwie anders. Er hatte darüber geschrieben und konnte das nachweisen. Oft habe ich mich gefragt, wer beeindruckt dich denn jetzt stärker: dein Kollege im Dienstzimmer nebenan in der Uni oder dieser Vogelkundler oder diese Hausfrau, die sich umfassend auskennt mit den wilden Pflanzen Deutschlands und die alles sofort bestimmen kann, was man ihr vorhält. Die sich ein derart umfangreiches Wissen angeeignet hat, dass auch der Fachbotaniker gern mit ihr redet.
Übrigens habe ich den Chef des Naturkundemuseums, in dem wir hier sitzen, bei dieser Gelegenheit vor 32 Jahren kennen gelernt. Ich war damals 39, er war 19 und noch Schüler in Bielefeld. Ich hatte mich gerade dazu breitschlagen lassen, den Vorsitz des Bielefelder naturwissenschaftlichen Vereins zu übernehmen. Ich interessierte mich schon immer sehr für Vögel und für Fische, überhaupt für die Natur, und ich wollte mit Leuten zusammentreffen, die sich damit auskennen, wollte mit ihnen Exkursionen machen und hinzulernen. Und diese Leute habe ich getroffen! Allerdings, es lief nicht so richtig mit dem Verein, es war zu wenig Jugend da, zu wenig Interesse und Kenntnis der neuen Medien und dergleichen, also habe ich meine Bedenken vorgetragen, und da stand so ein junger Mann auf mit einem damals schon viel zu kessen Bart und sagte: Ja, das muss man ändern! Und tatsächlich wurde das dann auch geschafft, hauptsächlich betrieben durch seine Aktivitäten. So gewannen wir junge Leute, wir kamen in Kontakt mit der Presse und den Rundfunkanstalten, sogar eine kleine Zeitung wurde entwickelt. Das war eine supergute Zusammenarbeit, und er hat dabei sein Rüstzeug bekommen. Er ging dann nach England, hat an der Universität Cambridge promoviert und ging später als Chefkurator der botanischen Abteilung ans National History Museum in London. Seit 2012 ist er nun hier in Berlin.
Was ich eigentlich damit sagen wollte ist, ich weiß, wovon ich rede. Keiner meiner Fachkollegen Wissenschaftstheoretiker ist jemals in einem solchen Verein aufgetreten oder gar eingetreten, denn sie glauben nicht, dass sie da was über Wissenschaft lernen können. Das ist ihnen unvorstellbar. Vielleicht darf ich noch eine Anekdote erzählen? 1982 habe ich an einem Wissenschaftstheorie-Kongress in Wien teilgenommen. Wien ist sozusagen die Geburtsstadt der Wissenschaftstheorie. Ich war noch junger Professor und habe einen Vortrag gehalten über den umstrittenen Wissenschaftsphilosophen Paul Feyerabend, eine Verteidigung seines Buchs ‚Science in a Free Society‘, zu dem es heftige Kontroversen gab. 1978 ist es auch auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen unter dem Titel ‚Erkenntnis für freie Menschen‘. Die Rationalitätskritik der westlichen Zivilisation ging mir zwar zu weit, aber Feyerabends Idee von Wissenschaft und Erkenntnis in einer freien Gesellschaft fand ich richtig.
Sie war sozusagen eine Vorwegnahme von dem, was wir heute Citizen Science nennen. Ihm allerdings hätte diese Bezeichnung überhaupt nicht gefallen. In meinem Vortrag habe ich auch von meiner eigenen Erfahrungsgrundlage in Citizen Science durch die Arbeit im Naturwissenschaftlichen Verein gesprochen. Und von der Sachkenntnis und Kompetenz einfacher Menschen, gegen die so mancher Universitätskollege verblasst. Ich forderte von der Fachkollegenschaft, dass man das ernst nimmt. Als ich geendet hatte, trat ein angesehener alter Wissenschaftler aus Österreich auf und sagte: ‚Junger Mann, vergessen Sie das! Dort können Sie nichts über Wissenschaft lernen, solche Vereine betreiben bestenfalls eine Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, die mit unserer modernen Wissenschaft nicht das Geringste zu tun hat!‘
Aktivist und Forscher
Ich habe mich davon nicht beeindrucken lassen, bin immer ein kritischer Wissenschaftstheoretiker geblieben. Das ist mein erster Erfahrungshintergrund. Und mein zweiter Erfahrungshintergrund ist zugleich der im Naturwissenschaftlichen Verein, wo mich immer der Kenntnisreichtum der Laien beeindruckt hat. Und die Umsicht, was die Zusammenhänge betrifft, auch die sozialen und politischen. Ich nenne das ‚Activist Research‘.
Auch manche Bürgerinitiativen benutzen den Begriff. Man ist Aktivist und auch Forscher. Also nicht wie bei den Profis: Sine ira et studio. Nein, man ist ‚bei der Sache‘, betroffen von einer Sache. Wie etwa die protestierenden Bürger bei ‚Stuttgart 21‘. Diese Aktivisten sind Leute, die bemerkt haben, dass was gegen die Interessen der Allgemeinheit geht oder dass etwas gefährlich ist, und die den Dingen auf die Spur kommen wollen. Es sind Gruppen, wie die Umweltbewegung und die Antiatombewegung, in denen über lange Zeiträume Leute aktiv sind, die sich nicht haben abspeisen und einschüchtern lassen, die darauf beharren, dass ihr Wissen wichtig ist. Ich bin sicher, ohne diese Bewegung wär’s nach Fukushima in Deutschland gar nicht zum Atomausstieg, zum Beschluss der Energiewende gekommen. Feyerabend hat gesagt, dass die Laien die einzige Gruppe sind, denen man die Kontrolle der Experten noch zutrauen kann.
Wir haben ja auch über das schöne Beispiel der naturwissenschaftlichen Zeichnerin Cornelia Hesse-Honegger gesprochen. Ihre Insektenbilder werden zwar international in namhaften Museen ausgestellt, ihre Arbeit wird aber von der Wissenschaft total ignoriert. Sie hat nach Tschernobyl über Jahrzehnte in eigener Initiative Abertausende von Wanzen in der Nähe von Atommeilern und Wiederaufarbeitungsanlagen in Europa und den USA gesammelt und untersucht und dabei festgestellt, dass eine erschreckend große Anzahl Deformationen aufwies. Einen Teil der deformierten Wanzen hat sie minutiös gemalt. Ihre Behauptung, die Schäden seien durch radioaktive Strahlung verursacht, wurde von der Wissenschaft abgetan mit dem Argument, die Strahlenbelastung sei viel zu niedrig. Sie war entsetzt, dass kein einziger Wissenschaftler Interesse an dem Problem zeigte. Im Gegenteil. Ein Professor, für den sie mal gearbeitet hatte, sagte zu ihr: ‚Denken Sie bloß nicht, Sie seien eine Wissenschaftlerin, bloß weil Sie mal Bilder für mich gezeichnet haben.‘ Ihre Erkenntnisse seien anekdotisch, die Insektensammlung unsystematisch und nicht umfassend genug. Der alte Profi wollte es der vermeintlich naiven Zeichnerin mal so richtig zeigen. Ein gutes Beispiel für die selbstherrliche Überheblichkeit der Wissenschaftler gegenüber dem Wissen von Laien.
Typisch auch, dass er Sekundärtugenden nennt: Wissenschaft muss systematisch sein, ordentlich, vollständig. Was er nicht erkennt ist: Der Aktivist Researcher ist unterwegs, schaut genau hin, nimmt sein Umfeld wahr, spürt die Zusammenhänge auf. Ich behaupte, dass Citizen Science die Nähe wiederentdeckt hat. Nähe ist ja für die professionellen Wissenschaftler überhaupt kein Thema. Aber Nähe ist eben nicht Rückfall ins 19. Jahrhundert, sondern es ist etwas, was der modernen Wissenschaft verloren gegangen ist und was wir wiedergewinnen müssen.
Zu meinen Erfahrungshintergründen möchte ich noch sagen: Ich bin auch Mitgründer der ‚Vereinigung für ökologische Ökonomie‘ in Deutschland. Das ist eine interdisziplinäre wissenschaftliche Vereinigung. Grund war, dass ich langsam bemerkt habe, wie das alles falsch läuft und welch großen Einfluss die Ökonomen auf die Politik haben. Sie finden jederzeit ein offenes Ohr bei den Politikern.
Soziale Nachhaltigkeit
Dabei sagen sie im Grunde immer das Gleiche, obwohl heute jeder Laie genau weiß, dass es falsch ist. Aber die Ökonomen sagen unverdrossen: mehr Wachstum! Es ist schlecht und gefährlich, wenn das Wachstum zurückgeht. In den 90er Jahren war ich eingeladen zu einer Konferenz im Schloss Crottorf, und dort traf ich viele interessante Leute, den Physiker Hans-Peter Dürr, die Ökonomin Christiane Busch-Lüty, die Professorin für Wirtschaftspolitik Eva Lang und einige andere. In diesem kleinen Kreis von insgesamt etwa 14 Leuten wurde über die falschen Weichenstellungen gesprochen und dann beschlossen, wir gründen eine Vereinigung für ökologische Ökonomie und kümmern uns um ein Konzept ökonomischer, ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit. Die gibt es seit 1996, und ich bin bis heute im Vorstand. Seit 2010 fordern wir die Ablösung der ökonomischen Wachstumspolitik und eine Postwachstumsökonomie. Es hat sich inzwischen ein ‚Netzwerk Wachstumswende‘ um die Vereinigung herum gegründet, in dem auch viele Studenten mitarbeiten. Auch das ist Citizen Science.
Ich habe noch einen weiteren Erfahrungshintergrund, der auf den ersten Blick vielleicht eher wie eine Liebhaberei aussieht.“ Peter Finke klopft auf sein Buch über „Prachtguramis“, eine exotische Fischart, das er für uns mitgebracht hat.
„Citizen Science ist ja auch eine Sache von Hobbys und Liebhabereien, wobei ich den Begriff Hobby gern meide, da gibt es eine riesige Hobbyindustrie. Viele Leute, die eine Liebhaberei betreiben, etwas sammeln, Vogelstimmen, Mineralien oder auch Sterne mit dem Fernrohr, kommen im Laufe der Zeit zu umfangreichen Kenntnissen, die sie dann meist mit anderen austauschen. Ich interessiere mich, wie gesagt, schon immer für Vögel und Fische, habe früh Vögel gezeichnet in unserem Garten. Ein alter Mann aus der Nachbarschaft zeigte mir solche Hefte, Der Tierfreund, Der Naturfreund, und hat mich dafür begeistert. Ihm verdanke ich sehr viel.
Mit sieben Jahren habe ich mein erstes Aquarium bekommen und von meiner Großmutter gab’s dazu ein Büchlein ‚Das Aquarium‘. Anfangs hatte ich nur ganz einfache Fische und Pflanzen. Später interessierten mich Labyrinthfische, die haben ein kompliziertes Atmungssystem, müssen an der Oberflache Luft schnappen, wenn man sie hindert, können die ertrinken, obwohl sie Kiemen haben.
Irgendwann, da war ich schon Student, las ich einen Artikel über den berühmten Fisch Parosphromenus deissneri aus Südostasien, der im 19. Jahrhundert von Pieter Bleeker beschrieben worden ist, einem holländischen Ichthyologen. Seither hatte ihn kein Mensch mehr gesehen. Anders als andere Labyrinthfische ertrinken sie nicht ohne Luft, sie haben ein fast ungenutztes Labyrithorgan. Und in diesem Artikel schilderte ein Dr. Foesch, Münchner Arzt und Aquarianer, wie er durch Zufall an ein paar solcher Fische gekommen ist und was er alles angestellt hat, um ihnen optimale Bedingungen zu schaffen, auch für die Fortpflanzung.
Wie er Bruthöhlen angelegt hat, damit das Männchen dort die Eier aufhängen kann, wie die Eier sich immer wieder gelöst haben, bis er herausfand, dass die mangelnde Haftfähigkeit an einem zu hohen Kalkgehalt des Wassers lag. Das war einfach toll! Sie heißen übrigens Prachtguramis, weil die Männchen eine überaus farbenprächtige Balzfärbung haben durch irisierende Farben. Wenn ein Sonnenstrahl durchs Wasser fällt, dann stellen sie sich sofort schräg, reflektieren das Licht und die Weibchen sind beeindruckt. Sie benötigen sehr weiches, saures Wasser. Ihr eigentlicher Lebensraum sind trübe Urwaldgewässer, torfige Schwarzwässer, die einen pH-Wert zwischen 3 und 4 haben, und dort gibt es praktisch keinen Kalk. Das muss alles berücksichtigt werden. Es war so interessant beschrieben, dass ich dachte, den musst du besuchen, was ich dann auch tat. Er hat mir die ersten Fische dieser Art gegeben.
Bis heute habe ich eine ganze Reihe von Exemplaren, fünf oder sechs Arten. Weil sie nur Lebendfutter fressen, züchte ich das Futter selbst, Würmchen und kleine Wasserflöhe namens Moina macrocopa, das ist der Japanische Wasserfloh. Die fressen sie sehr gern. Ebenso Artemia, Salinenkrebs-Nauplien. Diese Artemia haben den großen Vorteil, dass sie als Trockeneier gelagert werden können, sogar im Gefrierschrank. Sie kommen ursprünglich in Salzwasserseen vor, ihre Eier können, wenn die Seen austrocknen, jahrelang überdauern, und wenn sie mal wieder Wasser kriegen, dann entwickeln sie sich in zwei Tagen. Sie sehen, die ideale Fütterung der Prachtguramis erfordert Erfahrung und Fingerspitzengefühl. Alle frei lebenden Prachtgurami-Arten sind übrigens heute durch die rasante Urwaldvernichtung in Südostasien massiv in ihrer Fortexistenz bedroht. Und hier geht die private Liebhaberei über in eine gesellschaftliche Verantwortung. Vor ungefähr fünf Jahren habe ich im Internet ein internationales Erhaltungsnetzwerk gegründet für Fische, die vom Aussterben bedroht sind. Aquarianer aus 29 Ländern machen inzwischen mit und engagieren sich gegen die Vernichtung des Urwalds und immer neue Ölpalmenplantagen. Sie wurden zu Naturschützern, auch ein Beispiel für Citizen Science.
Natur und Kultur
Das waren sozusagen meine vier Erfahrungshintergründe. Ach ja, was ich noch mache, das ist Musik. Ich spiele Bratsche, Klavier und Trompete. Zunächst lernte ich als Kind Akkordeon. Meine Frau spielt Klavier. Wir haben seit 35 Jahren einen Hausmusikkreis, der bis heute jede Woche miteinander spielt. Ich meist Bratsche. Aber das ist nun wirklich eher privat. Zurück zum Thema: Bei Citizen Science geht es, im Unterschied zur Profiwissenschaft, wo man in Disziplinen denkt, wie gesagt, um ein Denken in Zusammenhängen.
Deshalb lässt sich das auch nicht so aufteilen in Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft. Es ist eher eine anders geartete Wissenschaft, mehr ‚transdisziplinär‘. Und das ist es, was wir heute brauchen, Zusammenhangswissen. Ich behaupte: Citizen Science ist sogar in der Lage, einen besseren Weg zum Verständnis von Wissenschaft zu eröffnen als Professional Science.
Sehr von Vorteil dabei ist die Freiheit, es gibt keine Institutionen, die Wirtschaft regiert nicht hinein, kein Wissenschaftsminister hat was zu sagen, kein Gerangel um Stellen, es gibt kein Geld. Aber da gibt es noch einen wichtigen Punkt: Oft wird gefragt, wo sind die Grenzen von Citizen Science? Gibt es überhaupt eine Kontrolle? Natürlich ist die Kontrolle hier nicht so ausgeprägt wie bei Professional Science. Profiwissenschaftler kontrollieren sich überaus genau gegenseitig, wissenschaftliche Kritik ist institutionalisiert, ist auch richtig so. Aber Citizen Scientists kontrollieren sich erstaunlich gut selbst, und ansonsten ist es ihnen wichtiger, ihren Freiraum kreativ zu nutzen. Ein gutes Beispiel ist Wikipedia, da geht zwar immer noch so manches durch, aber es funktioniert. Niemand hätte das je für möglich gehalten.
Es gibt eine lange Vorgeschichte von Citizen Science, von der ich noch nicht gesprochen habe, auf die ich hier kurz eingehen will. In Europa und an anderen Orten der Welt findet man Vorläufer, findet man Einzelpersonen, wie beispielsweise Charles Darwin oder Gregor Mendel, um nur zwei herausragende zu nennen, die sozusagen als Autodidakten ihre Theorien mit eigenen Beobachtungen oder Experimenten entwickelt haben. Man stößt auf bürgerliche Bildungsvereine, Museumsvereine, Lesevereine, auf Vereinigungen und Gesellschaften von kultur-, natur-, geschichts- und sozialinteressierten Bürgern, die bereits zu Zeiten der Aufklärung im 18. Jahrhundert gegründet worden sind.
Aber es war nicht nur das liberale Bildungsbürgertum des 18. und 19. Jahrhunderts, das sich dem aufklärerischen Geist verschrieben hat, es erreichte auch die Arbeiterschaft. Die Arbeiterbildungsvereine, die sich ab etwa 1830 in Deutschland gründeten, waren von der Überzeugung beseelt, dass Bildung und Wissen die Schlüssel zu einem selbstbestimmten, freieren und menschenwürdigeren Leben sind.“ [1919 wurde zum ersten Mal der Bildungsauftrag des Staates verfassungsgemäß verankert. In Artikel 148 der Weimarer Verfassung wurde festgeschrieben: „Das Volksbildungswesen, einschließlich der Volkshochschulen, soll von Reich, Ländern und Gemeinden gefördert werden.“ Anm. G. G.)
„Die Nationalsozialisten haben dann alle Arbeiterbildungsvereine verboten, weil unübersehbar war, dass sie ihrer Ideologie im Wege standen. Den Arbeiterbildungsvereinen gebührt ein Platz in der Geschichte von Citizen Science. Sie sind in der Tat wichtige und oft vergessene Pioniere der Bewegung. Hier wird besonders deutlich, dass Wissen auch vom Volke ausgeht.
Der emanzipierte Citizen Scientist folgt Kants Satz: Habe Mut, dich deines eigenen Verstands zu bedienen. Allerdings, angesichts der ungerecht verteilten Bildungschancen klingt das wie Hohn. Es muss nämlich auch die Möglichkeit geben, unsere natürlichen Fähigkeiten weiterzuentwickeln, und dazu muss die Politik eine Bildungs- und Wissensgerechtigkeit herstellen.
Aber vielleicht ist das gar nicht so gewollt, Citizen Science setzt kritische Impulse frei, sie hat politische Brisanz, ist eine der stärksten und zugleich traditionsreichsten, modernsten Ausdrucksformen bürgerschaftlichen Engagements in der Zivilgesellschaft. Sie ist eine überaus nützliche gesellschaftliche Arbeit, die unverzichtbar ist. Es geht letztlich um einen kulturellen Wandel, einen Aufbruch in eine demokratische Wissensgesellschaft, in der Wissen und seine Weiterverbreitung ein Allgemeingut sind. Ich habe eine These aufgestellt, die vielleicht ein bisschen gewagt klingt, sie lautet: Wenn die Wissenschaft nicht selbst zu einer absoluten Wende ihrer Grundüberzeugungen kommt, dann könnte es sein, dass die Bevölkerung sie zu einem Paradigmenwechsel zwingt, dass das von Laien angestoßen wird. Ob es allerdings rechtzeitig passiert, weiß ich auch nicht.“