GOTT UND DIE WELT VON MICHA BRUMLIKANTISEMITISMUS, ISLAMOPHOBIE – EIN PLÄDOYER FÜR TRENNSCHÄRFE : Rückkehr der Chimären
Die Frage, ob es wissenschaftlich und moralisch statthaft ist, Antisemitismus und vorurteilsgeladene Haltungen gegenüber der Religion des Islam – manche nennen das „Islamophobie“ – auch nur zu vergleichen, schlägt nach wie vor hohe Wellen. Doch bevor sich die Kontrahenten wechselseitig Verharmlosung oder Blindheit vorwerfen, wäre es vielleicht sinnvoll, sich um trennscharfe Bestimmungen zu bemühen.
So hat der Judaist Peter Schäfer in einem soeben publizierten Buch über den Antisemitismus der Antike unter Bezug auf den Autor G. I. Langmuir drei mögliche Bedeutungsdimensionen unterschieden: so gibt es 1. feindselig verwendete „Realistische Behauptungen über Fremdgruppen“; 2. „Fremdenfeindliche Behauptungen, die ein sozial bedrohliches Verhalten sämtlichen ihrer Mitglieder einer Gruppe zurechnen, die aber nur auf dem Verhalten einer Minderheit dieser Gruppe basieren“, sowie 3. „Chimärische Behauptungen, die mit Gewissheit Charakteristika, die empirisch nie beobachtet wurden … einer Fremdgruppe und allen ihren Mitgliedern zuweisen.“
In der Geschichte der Judenfeindschaft lassen sich einschlägige Beispiele schnell finden: In der Antike war es eine realistische Behauptung, dass Juden die Mahlgemeinschaft mit Nichtjuden der Speisegesetze wegen mieden, während die moderne Behauptung, dass alle Juden entweder bolschewistisch oder kapitalistisch seien, ein Fall generalisierender „fremdenfeindlicher“ Behauptungen ist. Chimärisch hingegen sind mittelalterliche Aussagen über Ritualmorde und Brunnenvergiftungen bzw. Aussagen des Hamas-Programms, wonach die Juden hinter der Französischen Revolution standen. Überträgt man diese Kategorien auf Haltungen gegenüber dem Islam, so zeigt sich schnell, dass die meisten negativen Einstellungen Muslimen und dem Islam gegenüber aus ungeprüften, undifferenzierten Generalisierungen resultieren.
Freilich fehlen auch chimärische Behauptungen nicht: Geert Wilders’ Meinung, der Koran sei ebenso menschenfeindlich wie Hitlers „Mein Kampf“, gehört ebenso dazu wie die Überzeugung, dass „Dschihad“ auf jeden Fall ein Begriff für die gewaltsame Unterwerfung der Welt sei. In diesen Fällen wird man guten Gewissens von „Islamophobie“ in der klinischen Bedeutung des Begriffs sprechen dürfen. Im aktuellen Diskurs – also bei jenen, die sich als seriöse „Islamkritiker“ ausweisen – sind es jedoch Generalisierungen bezüglich der Überrepräsentation junger muslimischer Männer aus der Unterschicht vor den Jugendgerichten, über die (tatsächlich sinkende) Gebärfreudigkeit muslimischer Frauen sowie über die teilweise Anerkennung islamischen Eherechts vor deutschen Zivilgerichten, die zur Überzeugung führen, dass Länder wie Deutschland kapitulieren.
Der Trick, mit dem diese Generalisierungen gerechtfertigt werden, ist der Rückgriff auf den Begriff der „Kultur“, die als generierende Matrix die kritisierten Verhaltensweisen mit Notwendigkeit immer wieder hervorbringe. Dabei erfüllt dieser Begriff der Kultur exakt dieselbe Funktion wie seinerzeit der Begriff der „Rasse“: auch er dient nur dem Zweck, Individuen oder Gruppen unabhängig von ihrem Willen auf bestimmte Verhaltensweisen festzulegen. Dass Ausnahmen denkbar und nötig sind, wussten auch die Rassisten: Die Nürnberger Rassengesetze definierten erbbiologische errechnete Verträglichkeitsgrenzen für „Mischlinge“, während heute Boni auf Assimilationsgrade vergeben werden.
Freilich sagen unterschiedliche Formen von Vorurteilen und Generalisierungen – von realistisch bis chimärisch – nichts oder nur wenig über die tödliche Kraft dieser Haltungen aus. Die vieldiskutierte Studie über das „Amt“, also die deutsche Diplomatie während des Dritten Reiches, lässt an deren mörderischer Hilfeleistung keinen Zweifel, ohne dass doch diesen Handlangern des Mordens, gebildeten Leuten, zu unterstellen wäre, den paranoiden Judenhass etwa des Stürmers geteilt zu haben. Dass aber viele Juden politisch (zu) links standen und deshalb besser entfernt werden sollten, dürfte den meisten dieser konservativen Diplomaten gewiss gewesen sein.
Kurzum: Es wäre bei Aussagen, die eventuell zu pauschal als „Islamophobie“ bezeichnet werden, im Einzelfall zu prüfen, ob es sich dabei um realistische Behauptungen, unzulässige Generalisierungen oder um wahnhafte Hirngespinste handelt. Terminologisch ließe sich dann zwischen „Islamkritik“, „Islamfeindlichkeit“ und „Islamophobie“ unterscheiden. Der Erfolg von Sarrazins Machwerk lässt sich dann aus seiner brisanten Mischung erklären, daraus, dass es neben der generalisierenden „Islamfeindlichkeit“ eben auch einige Elemente seriöser „Islamkritik“ enthält sowie – vor allem in den letzten Abschnitten des Buches unter dem Deckmantel der Satire – klinische Islamophobie verbreitet.
Aber wie dem auch sei: Gerade weil es darum gehen muss, die Singularität des Antisemitismus trennscharf herauszuarbeiten, spricht alles dafür, unterschiedliche Formen gruppenbezogener Menschenfeindschaft, handele es sich nun um Vorurteile gegen Juden, Christen, Muslime, Hindus oder gegen „Hexen“, gegen Homosexuelle oder dunkelhäutige Menschen, daraufhin zu untersuchen, wie sich bei ihnen realistische Beobachtungen, unzulässige Generalisierungen und klinische Wahnvorstellungen mischen.
■ Der Autor ist Publizist und Professor an der Universität Frankfurt/ Main