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Archiv-Artikel

Fünfzehnmal mehr Tote als im Vorjahr

MITTELMEER Bis zu 700 Flüchtlinge werden nach einem Schiffsunglück vor Lampedusa vermisst. Seit Jahresbeginn sind nun schon über 1.500 Flüchtlinge verunglückt. Vor einem Jahr waren es zum gleichen Zeitpunkt 108. Politiker fordern europäische Rettungsmission

BERLIN taz | Nach dem offenbar bislang schlimmsten Unglück im Mittelmeer haben Politiker und NGOs die Forderung nach einer europäischen Seenotrettungsmission bekräftigt. Vor der italienischen Insel Lampedusa war in der Nacht zu Sonntag ein Flüchtlingsboot mit bis zu 700 Menschen an Bord gekentert. Ein passierendes Handelsschiff konnte nur 28 Menschen retten.

„Wer jetzt nicht handelt, macht sich unterlassener Hilfeleistung schuldig“, sagte der SPD-Politiker Frank Schwabe. „Das Schwarze-Peter-Spiel muss jetzt schnell beendet werden.“ Eine Nachfolgemission der italienischen Marinemission „Mare Nostrum“ wäre keineswegs ein Anreiz für weitere Flüchtlinge, „sondern ein Gebot der Menschlichkeit“, so Schwabe. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) müsse eine solche Rettungsmission umgehend europäisch durchsetzen. De Maizière hatte ein neues Seenotrettungsprogramm kürzlich abgelehnt.

Es sei „an der Zeit, dass Deutschland seine restriktive Abwarte- und Abwehrhaltung aufgibt und sich in Europa an die Spitze setzt, um umfangreiche Hilfsmaßnahmen schnell und unbürokratisch zu organisieren“, sagte der Linken-Fraktionsvize Jan Korte.

Die Grüne EU-Politikerin Barbara Lochbihler sagte, die „Tatenlosigkeit der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten ist längst nicht mehr hinnehmbar“. Auch sie forderte eine europäische Seenotrettung und legale Einreisemöglichkeiten in die EU. Die Bundeskanzlerin schweige in der Frage „konsequent“, die Union spiele „den Schleusern in die Hände“, die SPD komme „über Worte des Bedauerns nicht hinaus“, so Lochbihler.

Die Initiative Watch the Med – zu Deutsch etwa: Schaut aufs Mittelmeer –, die seit Oktober eine Hotline für in Seenot geratene Flüchtlinge betreibt, sprach davon, dass die Europäische Union „Flüchtlinge tötet“. In einer am Sonntag verbreiteten Erklärung der Initiative heißt es: „Die EU hätte die Mittel und die Möglichkeiten, die Flüchtlinge aus dem Mittelmeer zu retten. Aber sie lässt die Menschen ertrinken.“ CHRISTIAN JAKOB

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* Erläuterungen zur Infografik: Das „Missing Migrants Projects“ der International Organisation for Migration (IOM) sammelt alle Berichte über verunglückte Flüchtlinge. Im Jahr 2014 registrierte es im Mittelmeer 3.291 tote oder vermisste Flüchtlinge, davon 108 in den ersten vier Monaten (blaue Linie). In diesem Jahr zählte die IOM bis zum Wochenende schon 866 Tote und Vermisste. Am Sonntag kamen noch mal 700 hinzu (rote Linie). Da niemand weiß, wie viele Boote sich auf den Weg machen, dürften die tatsächlichen Zahlen noch höher liegen Foto: Frank Muckenheim/Visum