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Archiv-Artikel

„Ich glaubte den Lügen der Atomlobby“

EINSICHTEN Naoto Kan war Japans Minister-präsident, als das Atomkraftwerk Fukushima havarierte. Dass er zuvor die Gefahren nicht erkannt hatte, beschämt ihn heute. Er widmet sein Leben nun dem Kampf gegen die Atomenergie und die Macht der Nuklearindustrie

Naoto Kan

■ 67, war von 2010 bis September 2011 Premierminister Japans. Er gehört zu den Gründern der Demokratischen Partei und ist heute Abgeordneter im Unterhaus des Parlaments. Laut einer Studie der Atomenergiekommission Japans, die er nach der Katastrophe von Fukushima in Auftrag gab, hätte er im schlimmsten Fall 50 Millionen Menschen evakuieren müssen.

INTERVIEW INGO ARZT

taz: Herr Kan, in Japan gibt es eine Kernschmelze in mehreren Reaktoren, doch Ihr Land setzt immer noch auf Atomenergie. Ist das seltsam für Sie?

Naoto Kan: Es ist schade, dass wir dem deutschen Beispiel nicht gefolgt sind. Als ich noch Ministerpräsident war, haben wir beschlossen, bis 2030 aus der Kernenergie auszusteigen. Die jetzige Regierung hat das wieder rückgängig gemacht. Momentan sind zwar alle Atomkraftwerke vom Netz, aber die Regierung lässt vielleicht schon im Sommer die ersten Reaktoren wieder hochfahren.

Warum? Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Japaner ohne Atomkraft leben will.

Ja, 67 Prozent wollen einen Ausstieg. Es gibt einen großen Graben zwischen den Japanern und ihren Abgeordneten im Parlament. Aber die Liberaldemokraten unter Shinzo Abe und ihr Koalitionspartner von der Gerechtigkeitspartei Komeito dominieren dank der Unterstützung ihrer Stammwähler aus der Bauindustrie und der Energiekonzerne wie Tepco, der Betreiber des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi.

Kann es sein, dass den Japanern andere Themen wichtiger sind als ein Atomausstieg?

Das ist eine gute Frage. Ich bin nach Deutschland gekommen, um von den Grünen hier zu lernen, wie man das Thema Atomkraft wichtig genug macht, um Sitze zu gewinnen. Die Grünen wissen, wie man die Stimmung der Menschen aufgreift. Aber wir haben natürlich ein anderes Wahlsystem.

Und wie wollen Sie die Stimmung der Menschen aufgreifen?

Indem ich ihnen sage, wie ernst Fukushima war. Das ist in Japan bis heute nicht bekannt. Wir hätten um ein Haar 50 Millionen Menschen evakuieren müssen. Es gab zwei Gründe, dass es dazu nicht gekommen ist: Die Feuerwehr, die Polizei und auch die Mitarbeiter von Tepco in den Kraftwerken haben ihr Bestes gegeben und ihr Leben riskiert. Und es gab einige sehr glückliche Zufälle.

Kan zeigt eine Seite aus einem offiziellen Bericht der japanischen Regierung. Sie zeigt Reaktor 4, der zum Zeitpunkt des Erdbebens und des Tsunamis am 11. März 2011 abgeschaltet war. Trotzdem ging von ihm die größte Gefahr aus: Große Teile der Brennelemente befanden sich wegen Wartungsarbeiten in einem speziellen, mit Wasser gefüllten Becken außerhalb des Reaktordruckbehälters, dem wichtigsten Schutzwall zwischen Reaktor und Außenwelt. Wäre das Wasser über den hochradioaktiven Brennelementen verdampft, wäre es zu einer Kernschmelze außerhalb des Reaktors gekommen. In diesem Fall hätte Tokio evakuiert werden müssen, schreiben japanische Behörden. US-amerikanische Behörden warnten damals, dass es bis zu 200.000 Todesopfer geben könnte. Es war nur Zufall, dass es so weit nicht kam: Nur weil sich die Arbeiten an Reaktor 4 verzögerten, befanden sich noch 1.440 Kubikmeter Wasser in zwei sonst leeren Becken. Von dort strömte Wasser in das Becken mit den Brennelementen nach und verhinderte die Kernschmelze.

Ich glaube, Gott hat uns in diesem Moment beschützt. Das habe ich gespürt.

Nur um interkulturelle Missverständnisse zu vermeiden: Sie reden jetzt nicht über den christlichen Gott, oder?

(Kan lacht) In Japan glauben wir an über acht Millionen Götter in der Natur. Alles um uns herum enthält Gott. Sie alle haben uns gerettet.

Wie wollen Sie Ihre Botschaft in Japan verkaufen?

Ich will die Japaner informieren, damit sie die Sache ernst nehmen und ihre Einstellung ändern. Wir haben die Angewohnheit, Dinge leicht zu vergessen. Nehmen Sie den Tsunami: Vor drei Jahren verursachte er eine große Tragödie, und kurze Zeit später haben alle weitergelebt, als sei nichts passiert. Das Gleiche sehen wir bei der Atomkatastrophe.

Hören Ihnen die Medien zu?

Die Medien haben den Menschen seit den 70er Jahren nicht die Wahrheit über Atomkraftwerke erzählt. In Deutschland ist ausgiebiger und tiefgründiger über Fukushima berichtet worden als in Japan.

Ändert sich das?

Es gibt einige Zeitungen wie die Mainichi Shimbun und die Asahi Shimbun, die kritisch über die Atomkatastrophe schreiben. Aber rechte Zeitungen wie die Yomiuri Shimbun unterstützen Kernenergie und schreiben weiterhin, wie unverzichtbar sie sei. Die Risiken erwähnen sie nicht. Die meisten Privatsender haben nicht die Wahrheit über den Unfall berichtet. Sogar das deutsche Fernsehen interviewt die Arbeiter in den Kraftwerken, aber in Japan berichten die meisten Sender nicht darüber, weil sie Angst vor Tepco haben. Die sind immer noch die größten Geldgeber privater Sender.

9 Monate vor dem Atomunfall wurden Sie zum Premierminister gewählt. Hätten Sie die Gefahr nicht erkennen müssen?

Viele meiner Freunde und ich kommen aus der Bürgerrechtsbewegung der 70er und 80er Jahre. Meine Freunde von damals waren immer noch sehr besorgt über die Gefahren der Atomenergie in Japan. Die Atomindustrie hat mir allerdings wieder und wieder erzählt, dass ein großer Unfall unmöglich sei. Dieses große Sicherheitsmärchen ist so oft wiederholt worden, bis es alle geglaubt haben. Ich ebenfalls. Als ich an die Macht kam, bin ich nicht mehr auf die Idee gekommen, an unserer Nuklearpolitik viel zu verändern.

Ausstieg vom Ausstieg

■ Vor drei Jahren: Bis zum März 2011 deckte Japan seinen Energieverbrauch zu einem knappen Drittel aus Atomkraft. Nach dem Tsunami-Desaster ließ Naoto Kan, damals noch Premier, alle 58 Reaktoren der 16 kommerziellen AKWs Japans vom Netz nehmen.

■ Heute: Der Schock währte nicht lange. Im April dieses Jahres verkündete der heutige Regierungschef Shinzo Abe, der auf seiner Europareise am Mittwoch Berlin besucht, den Ausstieg aus dem Ausstieg. Offen bleibt noch, wie hoch der Anteil der Atomenergie am japanischen Energiemix künftig sein soll. Ob Abe sich bei Bundeskanzlerin Angela Merkel über die Vorteile einer atomenergiefreien Zukunft informiert, steht dahin.

■ Morgen: Während die japanische Regierung weiter auf Atomkraft setzt, wächst die Zahl derer, die sich wie Expremier Naoto Kan für eine Neuorientierung einsetzen. Zwei von Kans Amtsvorgängern, Morihiro Hosokwawa und Junichiro Koizumi, wollen am 7. Mai eine neue Lobbyorganisation für Erneuerbare Energien in Tokio vorstellen.

Fühlen Sie sich persönlich für den Unfall verantwortlich?

Ich schäme mich heute sehr dafür, dass ich den Märchen der Atomindustrie geglaubt habe.

Und jetzt kämpfen Sie gegen Atomkraft?

Das ist meine Aufgabe als ehemaliger Regierungschef, der damals Verantwortung trug. Ich sehe mich als Aufklärer über die Katastrophe. Dafür muss ich gegen die Atomlobby kämpfen. Mein letzter Akt, bevor ich zurückgetreten bin, war ein Gesetz, das erneuerbare Energien finanziell fördert. Das führt jetzt zu einem Boom dieser Energien in Japan. Meine Aufgabe ist es, erneuerbare Energien voranzubringen und Atomenergie abzuschaffen.

Wie stark ist in Japan denn das „Nukleardorf“ noch, wie man bei Ihnen den Filz aus Politik und Atomindustrie nennt?

Vor 10 Jahren haben sie alles kontrolliert, nicht nur die Wirtschaft. Wer als Professor gegen Atomenergie war, ist von der Uni geflogen. Als Schauspieler sind Sie aus dem Fernsehen geflogen, als Politiker aus dem Mainstream. Momentan geht es wieder in diese Richtung. Das hat einen simplen Grund: Wir haben eine Industrie, die öffentliche Aufträge umsetzt, also Straßen, Brücken, Schulen oder Häfen baut. Sie hatte sehr großen Einfluss auf die Politik. Weil Japan hoch verschuldet ist, gehen die Investitionen im öffentlichen Sektor zurück, die Industrie verliert ihren Einfluss wieder. Das nutzen Energiekonzerne wie Tepco, sie werden wieder zur einflussreichsten Lobbygruppe. Sie finanzieren wieder die Universitäten, die Massenmedien, das Fernsehen, sie bauen sogar Fußballstadien.

In Deutschland streiten wir derzeit heftig über die Energiewende. Ist das Land für Sie ein gutes oder ein schlechtes Beispiel?

Natürlich ein gutes Beispiel! Aber ich habe gelernt, dass die Deutschen hart kämpfen mussten, um den Einfluss der Atomindustrie zurückzudrängen. In Japan müssen wir noch viel mehr tun, um das auch zu schaffen.

Wirtschaft + Umwelt SEITE 9