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Archiv-Artikel

Am äußersten Rand der Wirklichkeit

EXZENTRISCH Der portugiesische Filmemacher João Pedro Rodrigues liebt erzählerische Extravaganzen. Gerade deshalb ist sein Kino wahr und echt, wie sein jüngster Film „To Die Like a Man – Morrer como um homem“ zeigt

Zwar will Tonia eine Frau sein, doch zugleich will sie Gott, der sie als Mann schuf, nicht widersprechen

VON EKKEHARD KNÖRER

Soldaten im Wald tragen zur Tarnung ein kleines Gebüsch auf dem Kopf. Es ist dunkel, sie pirschen durch die Nacht, zwei absentieren sich, haben Sex. Dann stoßen sie im Wald auf ein Haus, darin machen zwei Drag Queens mittleren Alters Klaviermusik mit Gesang. Der eine Soldat legt das Gewehr auf die beiden an, der andere schiebt den Lauf in letzter Sekunde zur Seite und erschießt den ersten Soldaten. Dann macht der Film einen Sprung, es wird nicht der letzte sein.

Wir sind nun bei Tonia (Fernando Santos), einer anderen Drag Queen mittleren Alters, im Garten. Tonia liebt Rosário (Alexander David), der ist halb so alt wie sie und ein Junkie. Sie vermisst Wertgegenstände und vermutet, Rosário habe sie ihr geklaut. In Wahrheit trägt, was man viel später erfährt, Agustina die Schuld, die kleine Terrierhündin, die Tonia mindestens so sehr wie ihren Rosário liebt. Irene, die beste Freundin von Tonia, besucht einen Arzt, der ihr mithilfe eines gefalteten Stücks Papier sehr anschaulich erklärt, wie man die primären Geschlechtsmerkmale des Mannes in die primären Geschlechtsmerkmale der Frau umoperiert. Tonia, ein biologischer Mann mit Silikonbrüsten, schreckt vor der Operation zurück, aus Gründen der Religion. Sie trägt ein goldenes Kreuz um den Hals und betet inbrünstig zu dem Gott, der sie aber doch falsch schuf.

„To Die Like a Man“, der dritte Film des portugiesischen Regisseurs João Pedro Rodrigues, zieht merkwürdige Schleifen. Motive kehren wieder, oft seltsam verwandelt. An das Gebüsch auf dem Kopf der Soldaten erinnert der überbordende Kostümschmuck, den Tonia in den Drag-Queen-Shows trägt, als deren alternder Star sie ihren Lebensunterhalt verdient. Der Soldat des Beginns erweist sich später als Sohn Tonias aus einem früheren Leben. Auch zu den Transvestiten in ihrem Haus im verwunschenen Wald geht es zurück. Ein fantastischer Ausflug ist das, die tollste Wendung dieses an tollen Wendungen reichen Films.

Maria Bakker (Gonçalo Ferreira De Almeida), die Dominante des Drag-Queen-Paares im Waldhaus, ist eine Schau. Sie hegt die Blumen des Gartens, sie bietet dem verlorenen Liebespaar Obdach, sie steht wie gemalt im offenen Fenster und sie zitiert mit hinreißendem Pathos – und auf Deutsch! – Gedichte Paul Celans. Auf ihren Vorschlag begibt man sich, um allerdings längst ausgestorbene und darüber hinaus mit Absicht falsch ausgesprochene Schnepfen zu jagen, auf eine gemeinsame Nachtwanderung durch den Wald. Rosário fängt ein Glühwürmchen mit den Händen, was erstaunlicherweise nicht das kleinste bisschen kitschig ist, und dann steht der Film, was er manchmal tut, einfach still und bewegt den Betrachter und die Betrachterin doch. Sehr sogar. Ein Fingerzeig Richtung Mond und das Bild färbt sich rot. Im monochromen Halbdunkel sitzen Mensch und Hund schweigend, dazu läuft Billy Dees berückend trauriger Song „Calvary“. Das ist keine Musik, die auf eine Geschichte geklatscht wird zu Zwecken der Erpressung eines Gefühls. Vielmehr suspendiert der Film die Erzählung zur Ehre dieser Musik, die als traurige Wahrheit zum ruhenden Bild kommt im Namen des Herrn.

Mit den Christus-Motiven macht Rodrigues nämlich auf so listige Weise ernst wie mit allem anderen auch. Wie Christus nach dem Schwertstich am Kreuz blutet Tonia aus der Brust, in ihrem Fall allerdings ist die Vergiftung durchs Silikon der tatsächliche Grund. Zuvor schon schwebten Tonia und Rosário von Zauberhand bewegt-unbewegt zwischen den Prachtgrabbauten eines katholischen Friedhofs, zu dem zurück der Film dann auch eine Schleife zieht. Der Song vom Kalvarienberg weist so voraus auf Tod und Verklärung der Liebenden im großen Finale.

Die Liebe zum Camp

Eine Bibel-Travestie, sicherlich. Und ja, es durchwalten den Film von Anfang bis Ende die Liebe zum Camp und zu extravaganten Ellipsen und Rhythmen, überhaupt eine grandiose Rücksichtslosigkeit gegen jedwede Realismuskonvention. Und doch gibt es die Trauer und die Angst und die Freude und das Leid der Figuren zum Nennwert. Das Dilemma Tonias ist wahr und ist echt. Es zerreißt sie zwischen der Sehnsucht, eine Frau zu sein, und dem Vertrauen in die Geschlechtsmerkmal-Schöpfungstat Gottes. Rodrigues’ große Idee liegt nun aber genau in der Überzeugung, dass es wahrere Formen des Ausdrucks für das Wirkliche gibt als den Kitchen-Sink-Realismus.

Was die Sozialdramaregisseure dieser Welt an Politbotschaften in ihre normierten Dramaturgien packen, bringt Rodrigues in seinem Film mit links unter. Mit rechts aber eröffnet er dem Individuum – ausgerechnet durch Künstlichkeit überzeugende – Mittel und Wege, zu zeigen, wie es liebt, gedemütigt wird und auch triumphiert. Zwar sind die Protagonisten gefangen nicht zuletzt in ihren eigenen Normen, ganz konsequent wird Tonias Schicksal darum als Tragödie erzählt. In seinen Transformationen und oft atemberaubenden Einstellungen führt der Film aber Auswege in die Freiheit als Bild- und Denkmöglichkeit vor. Indem er etwa seine Figuren entführt in jenen verwunschenen Wald, den er kühn setzt als am äußersten Rande der Wirklichkeit existierende eigene Welt. Und zum Schluss stimmt dann Tonia im postmortalen Drag-Queen-Ornat einen Fado-Gesang an von jenem Leben im Plural, das ihr auf Erden nicht möglich war. Der Clou dabei: „To Die Like a Man“ selbst ist ein Wesen im Plural, als Film, der von den gar nicht so außergewöhnlichen Schicksalen seiner Figuren auf singulär vielgestaltige Weise erzählt.

■ „To Die Like a Man – Morrer como um homem“. Regie: João Pedro Rodrigues. Mit Fernando Santos, Alexander David, Gonçalo Ferreira De Almeida u. a., Portugal/Frankreich 2009, 135 Min.