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Archiv-Artikel

Wanderer kennt kein Nachtlied

ORTSTERMIN Bei der größten Lesung Thilo Sarrazins in Deutschland geht es kultiviert zu. Es zeigt sich: Der oberste Kulturbürger des Landes hat Nachholbedarf bei Goethes Gedichten

Die Zuhörer gehören zur Mittelschicht. Es ist das Dresdener Kleinbürgertum gekommen

AUS DRESDEN MICHAEL BARTSCH

Alle, wirklich alle springen sie am Donnerstagabend begeistert klatschend auf, als die Prozession die riesige Halle betritt. Sie wollen ihn sehen, der da zwischen Bodyguards und Kameraleuten kaum auszumachen ist. Ihn, der „endlich das ausspricht, was uns seit Jahren am Herzen liegt“, wie der moderierende Schweizer Honorarkonsul Peter S. Kaul einen Leserbrief zitiert. Der große Aussprecher aber steht steif, ungerührt und mit hängenden Mundwinkeln auf dem Podium. Kein Nicken, nicht der Ansatz eines Grußes, nur Daumendrehen. Später wird jemand fragen, warum er immer dieses Pokerface macht. Thilo Sarrazin sagt, er sei seit Jahrzehnten damit zufrieden.

Die Messe Dresden hatte wegen der großen Kartennachfrage umdisponiert und der veranstaltenden Agentur Grun & Partner die größte Halle zur Verfügung gestellt. Deutscher Sarrazin-Lesungsrekord, 12 Euro Eintritt, 2.500 Menschen. Draußen vor dem Tor umgeht die Menge nach Möglichkeit die etwa 150 Demonstranten, ihre Rufe und Plakate. Ausländerrat und die sächsische Beratung für Opfer rechtsextremer Gewalt hatten sich zuvor schon gegen die Verbreitung „rassistischer und sozialchauvinistischer Ressentiments“ gewandt.

Ein Spaßvogel von der Linken versucht mit Platzanweiserstimme, die Gäste über einen symbolisch ausgelegten braunen Teppich zum Eingang zu geleiten. Aus der Schlange halten jüngere Sarrazin-Fans ebenfalls Pappen hoch. „Danke Thilo“ oder „Islamisierung stoppen“ steht eilig hingemalt darauf. Wortwechsel entspinnen sich. „Wir haben schon eine Moschee – die Tabakmoschee“, ruft ein Besucher allen Ernstes und meint damit eine historische Zigarettenfabrik in Dresden, die ein wenig wie ein islamisches Gotteshaus aussieht. Auf der anderen Seite ist vom „Rassismus der Mitte“ die Rede und von Ängsten, mit denen Sarrazin spiele. „Klassisch wie 1933“, sagt ein ehemaliger grüner Stadtrat.

Drinnen aber herrscht Disziplin. Andächtig lauscht die Menge Sarrazin, der nicht vorliest, sondern weit über eine Stunde frei über seine Thesen spricht. Scheppernde Gläser sorgen für die lautesten Unterbrechungen.

Erst spät kommt wieder Beifall auf, als Sarrazin gegen das „Kopftuch als Zeichen der Absetzung von der Mehrheitsgesellschaft“ wettert oder in hundert Jahren noch eigene deutsche Kulturtraditionen fortgeführt wissen will. Und zur deutschen Mehrheitsgesellschaft möchten die Zuhörer offenbar alle gehören. Größtenteils ist das Kleinbürgertum gekommen, Angestellte, die Mittelschicht.

Überwiegend sind es mittlere Jahrgänge, kaum ganz junge Zuhörer. Selbstverständlich sind auch NPD-Landtagsabgeordnete wie Arne Schimmer darunter, der seine Frage nach einem sofortigen Zuwanderungsstopp später als Pressemitteilung verbreiten lässt. Intellektuelle, jedenfalls bekanntere Dresdener Gesichter sucht man vergeblich. Fragen werden weder als penetrante Elogen noch polemisch gestellt. Kritik kommt eher sarkastisch verpackt daher. Warum er selbst nicht mehr als zwei Kinder habe? Eine Asiatin überführt ihn der Unkenntnis von Goethes „Wanderers Nachtlied“, so wie der deutsche Kulturbürger Sarrazin zuvor schon ein Hölderlin-Zitat fälschlich Schiller zuschrieb.

Beifall gibt es für Forderungen nach kopftuchfreien Schuluniformen und Streichung von Leistungen an Einwanderer, für Attacken gegen Angela Merkel oder gegen die „Sozialindustrie“.

Die Stimmung steigt während der Veranstaltung, auch bei Sarrazin. Seine subtilen Appelle an das gesunde Volksempfinden funktionieren. Dünn wird es nur, wenn nach Lösungen gefragt wird. Er bleibt auch eine Antwort schuldig, wie er mit seiner gewachsenen Verantwortung umzugehen gedenke. Was Hunderte nicht hindert, schon mitten im Schlusswort zwecks Signierung nach vorne zu stürmen.