piwik no script img

Archiv-Artikel

„Es war ein Schock“

FILMVORFÜHRUNG Der türkische Filmemacher Can Candan interviewte 1991 Migranten in Berlin

Von JPB
Can Candan

■ 44, Filmemacher, lehrt an der Bogaziçi-Universität in Istanbul. Gründer des docIstanbul-Center for Documentary Studies.

taz: Herr Candan, wie haben Sie die Wiedervereinigung erlebt?

Can Candan: Als die Mauer fiel, war ich als Student in den USA. Mein Blick war durch die US-Medien beschränkt, die darüber nur im Sinne eines Sieges des Westens im Kalten Krieg berichteten.

Was war Ihr Antrieb, 1991 in Berlin einen Dokumentarfilm zu drehen?

Ausschlaggebend war ein Artikel in der Washington Post über zunehmenden Rassismus. Ich hatte zwei Onkel, die als Arbeiter aus der Türkei nach Deutschland gekommen waren. Ich wollte die Sicht der Migranten kennenlernen, aber auch persönlich verstehen, was es heißt, als Ausländer in einem Land zu leben. Ich selbst war ja damals als Türke in den USA.

Gab es eine spezifische Perspektive der MigrantInnen?

Der Film zeigt, dass es eine Vielzahl von Meinungen unter den Migranten gab und wirkt so auch selbst diesem Stereotyp entgegen. Viele wollten teilhaben, wollten als Berliner feiern. Aber sie waren nicht willkommen und wurden nicht als Deutsche gesehen. Es war ein Schock für sie, in ihrer eigenen Stadt ausgeschlossen zu werden.

Wie präsent war der aufkommende Rassismus?

Während der Dreharbeiten geschah Rostock-Lichtenhagen. Im Film sprechen die Leute darüber und fragen, was passieren würde, wenn jemand ihre Häuser niederbrennt. Es war eine Vorahnung der späteren Brandanschläge von Mölln und Solingen. Ich glaube, das macht den Film bedeutsam: Dass die Immigranten schon vorher vor Attacken warnten, aber ihnen niemand zuhörte.

Freuen Sie sich, dass Ihr Film noch diskutiert wird?

Es ist auf eine Art traurig, dass es so ist. Wenn es keinen Rassismus, keinen NSU mehr gäbe, wäre es ein historischer Film. Das würde ich mir wünschen. Aber nach über 22 Jahren sind diese Dinge noch aktuell. Die Perspektive der Migranten wird von den Mainstream-Medien immer noch nicht wahrgenommen.

Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 feierten Deutsche und Türken gemeinsam. Ist das keine Veränderung?

Fußball ist das eine. Aber ich traf kürzlich eine Frau aus meinem Film. Sie war eine der ersten ArbeiterInnen, die aus der Türkei nach Deutschland kamen. Nach 40 Jahren in Deutschland darf sie immer noch nicht wählen, gibt es noch keine doppelte Staatsbürgerschaft. Es bleibt ein langer Weg.  INTERVIEW: JPB

Film und Gespräch mit dem Filmemacher: 20 Uhr, Lagerhaus