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Archiv-Artikel

Immer mehr Bedürftige

ARMUT Die Tafeln versorgen mittlerweile rund 1,5 Millionen Menschen mit Lebensmitteln. Der Kundenkreis wächst. Beim Jahrestreffen in Wiesbaden geht es um neue Strategien

Auch Geringverdiener, Rentner, Flüchtlinge, Alleinerziehende und Studenten tafeln

VON RAINER BALCEROWIAK

BERLIN taz | Wären die Tafeln normale Wirtschaftsunternehmen, könnte der Bundesverband bei der bevorstehenden Jahreshauptversammlung voller Stolz auf eine sensationelle Geschäftsentwicklung verweisen. Mittlerweile versorgen bundesweit 900 Tafeln mit 60.000 Mitarbeitern in 3.000 Ausgabestellen rund 1,5 Millionen bedürftige Menschen regelmäßig mit Lebensmitteln. Dabei wurden in jüngster Vergangenheit völlig neue Kundenkreise erschlossen. Denn längst nehmen nicht mehr nur Obdachlose oder Hartz-IV-Bezieher die Angebote in Anspruch, sondern zunehmend auch Geringverdiener, verarmte Rentner, Flüchtlinge, alleinerziehende Mütter und Studenten.

Die Tafeln sind aber keine normalen Wirtschaftsunternehmen. Die Mitarbeit ist ehrenamtlich, die Lebensmittel stammen ausschließlich aus Spenden, Verwaltung und Logistik werden durch Sponsoren finanziert, Profite gibt es nicht. Bei dem Jahrestreffen, das ab 5. Juni zwei Tage lang in Wiesbaden stattfindet, wird es vor allem darum gehen, wie man auf die gestiegenen Anforderungen reagieren kann.

Jochen Brühl, der – ebenfalls ehrenamtlich tätige – Vorsitzende des Bundesverbandes, verweist vor allem auf die vielen Flüchtlinge, die zu den Tafeln kommen. Diese litten oftmals unter posttraumatischen Störungen, was die Mitarbeiter überfordere. Dazu kämen Verständigungsschwierigkeiten durch fehlende Sprachkenntnisse. Nun sollen Fortbildungen für Mitarbeiter und besserer Vernetzung mit anderen sozialen Hilfsangeboten helfen.

Eine umfassende Professionalisierung der Arbeit lehnt Brühl allerdings vehement ab. Kernaufgabe der Tafeln solle es bleiben, überschüssige Lebensmittel einzusammeln und an Bedürftige zu verteilen. Flankierend gehörten dazu auch „nachhaltige Angebote“ wie Kinderkochkurse, Einkaufs- und Ernährungsberatungen. Dem von einigen Tafeln praktizierten Zukauf von Lebensmitteln aus Spendengeldern steht er skeptisch gegenüber und erinnert an die 80 Kilogramm Lebensmittel, die statistisch pro Kopf jährlich vernichtet werden.

Den weit verbreiteten Vorwurf, die Tafel ließe sich von der Politik und den Behörden als Lückenbüßer einspannen, um die soziale Ausgrenzung ärmerer Menschen zu kaschieren, weist der Vorsitzende zurück. Man begreife die zunehmende soziale Spaltung in Deutschland als politischen Skandal und unterstütze als Verband aktiv Kampagnen wie zum Beispiel für die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze auf das Niveau einer bedarfsgerechten Grundsicherung und die bundesweite Einführung kostenloser Mahlzeiten in Kindereinrichtungen und Schulen. Zudem habe die Arbeit der Tafeln bei vielen ehrenamtlichen Helfern einen „Bewusstseinsprozess eingeleitet“, der über das rein karitative Engagement hinausgehe.

Einen derartigen Prozess mag Brühl auch den Hauptsponsoren der Tafeln zugestehen, zu denen große Handelsketten wie Lidl, Metro und Rewe ebenso gehören wie die Daimler-Benz AG. Doch es bleibt ein Geschmäckle, wenn diese Konzerne ihr „soziales Engagement“ aufwändig medial inszenieren; schließlich gilt Social Sponsoring als besonders effektives und kostengünstiges Marketinginstrument. Das gilt natürlich auch für die vielen Politiker, die bei Events wie dem Jahrestreffen der Tafeln immer gerne als Schirmherren oder Grußredner in Erscheinung treten.

Man werde jedoch jede Gelegenheit nutzen, die Politik an ihre Verantwortung für den Sozialstaat zu erinnern, versichert Brühl. Als wirklich erfolgreich könne man die Arbeit der Tafeln erst dann bezeichnen, wenn sie komplett überflüssig geworden seien.