: Aufgeklärter Egoismus
ETHIK Das gute Leben wird es im Kapitalismus nicht ohne eine neue gesellschaftliche Moral geben. Plädoyer für die Tugend der Generosität
■ 70, ist taz-Genosse seit 2010. Er hat Philosophie studiert, war Politikberater und betreibt ein Künstlerhotel und philosophisches Café in Köln. Sein letztes Buch heißt „Der schlafende Riese. Die Partei der Nichtwähler“.
Alle Menschen wollen das gute Leben, könnte man in Anlehnung an Aristoteles behaupten, demzufolge alle nach dem Glück streben. Doch was das „gute Leben“ ist, bleibt genauso unklar wie jeder Versuch, das Glück theoretisch zu definieren.
Der Begriff des guten Lebens hat Dimensionen, die sich nicht nur mit der schlichten Aussage beschreiben lassen, dass es einem gut gehen soll im Leben – was in der Regel über ein materielles Wohlbefinden nicht hinausreicht. Im Begriff des guten Lebens schwingt auch ein moralischer Anspruch mit, es erfüllt sich nicht im individuellen Wohlergehen, sondern lässt sich nur verwirklichen, wenn man sich der Tatsache stellt, dass der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist.
Exzessiver Individualismus
Es geht nicht nur um das gute Geld und den guten Job oder Glück in der/den Partnerschaft(en). Inzwischen dämmert uns, dass die exzessive Individualisierung des Lebensglücks nicht die richtige Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens ist. Allerdings sind wir nach den Erfahrungen mit den katastrophal gescheiterten Gemeinschafts-Ideologien – wie Kommunismus und Nationalismus – zu Recht sehr empfindlich gegenüber allen Gegenentwürfen zur individuellen Selbstverwirklichung. Aber auch der Kapitalismus, der einzig auf die individuellen Wünsche und Ziele der Menschen abzielt, ist inzwischen als Königsweg zum Glück und zum guten Leben weitgehend fragwürdig geworden.
Adam Smith’ Erkenntnis, dass „der Bäcker und der Metzger und der Bierbrauer“ nicht aus Wohlwollen, sondern um ihrer eigenen Interessen willen tätig sind, ist im Neoliberalismus zu einer Ideologie des „Gier ist gut“ verkommen – mit katastrophalen Folgen.
Im Gegensatz zu Kommunismus und Nationalismus, die auf wenn auch irregeleiteten und gefährlichen Wertvorstellungen basierten, ist der Kapitalismus amoralisch. Er geht davon aus, dass er zu seiner Rechtfertigung keiner Wertvorstellungen bedarf, sondern dass seine „natürliche“ Effektivität bereits ausreicht, den Menschen durch die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung zum materiellen Wohlstand und damit zum erfüllten Leben zu verhelfen. Der Kapitalismus als Kind der Aufklärung ist dabei insofern konsequent, als er sich eben nicht mehr auf äußere, von Menschen unabhängige Werte bezieht, sondern sich aus sich selbst, das heißt aus einer angeblichen „Natur des Menschen“ legitimiert.
Die Macht der Gefühle
Nun ist inzwischen als großer Irrtum erkannt, dass die „Natur des Menschen“ so einseitig ist, wie der im Neoliberalismus wiederauferstandene Sozialdarwinismus behauptet. Auch erwies es sich als falsch, dass eine Gesellschaft ohne ein Minimum an gemeinsamen Wertvorstellungen und nur auf Basis eines vermeintlich effizienten Wirtschaftssystems bestehen kann.
In den letzten Jahrzehnten haben die Neurobiologie, die Evolutionsbiologie, die Hirnforschung unbestreitbar bewiesen, was wir immer schon ahnten: Der Mensch besitzt neben egoistischen Trieben eine Vielzahl von empathischen Facetten in seinem Gefühlshaushalt, die sich in der Hinwendung zu den anderen und in der Überwindung, zumindest Hintansetzung der eigenen Interessen erfüllen.
Zudem hat sich gezeigt, dass der Kapitalismus nur so lange einigermaßen „effektiv“ seinen Anspruch erfüllt hat, für allgemeinen Wohlstand zu sorgen, wie er durch Gesetze und Regeln der Solidarität, der Gerechtigkeit und der Allgemeinwohlverpflichtung eingeschränkt war. Als mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten die „Systemkonkurrenz“ entfiel, wurde der Kapitalismus all seiner sozialen Bindungen entledigt. Der neue Geist des Neoliberalismus begann seinen zerstörerischen Amoklauf, der die Gesellschaften bis in ihre Grundfesten erschüttert. Geld spielte nur noch mit sich selbst, verschwand auf die Finanzmärkte, statt reale Investitionen zu tätigen. Alle Versuche, das Biest wieder einzufangen, sind zum Scheitern verurteilt, solange es nicht gelingt, eine neue gesellschaftliche Moral zu etablieren, in die der Kapitalismus eingebunden wird.
Nun kann man einer modernen Gesellschaft nicht eine Ethik von oben verordnen. Das haben Moses und Mohammed und Jesus oder Paulus noch vermocht, Lenin und Hitler ohne bleibenden Erfolg versucht. Eine neue Moral muss aus dem Inneren der Gesellschaft erwachsen. Sie entsteht, wenn zwei Faktoren zusammenkommen: Die Zeit muss reif sein für eine neue Moral, und diese Moral muss auf der Höhe des Bewusstseins der Gesellschaft sein. Damit scheiden für eine moderne Gesellschaft esoterische und religiös fundierte Ethiken als Leitbilder aus.
Geben bereichert
Wir brauchen eine Ethik, die sich an der Natur des Menschen orientiert, die seine empathischen, auf die Mitmenschen gerichteten Gefühle anspricht, ohne sein Bedürfnis nach individueller Selbstverwirklichung zu ignorieren.
Das Leitbild einer solchen neuen Moral könnte die Tugend der Generosität sein – weil sie den Kapitalismus überwindet, ohne ihn aufzugeben. Der Kern des vom Geld geprägten Denkens ist die Reziprozität: „Ich gebe dir das, was ich umgekehrt von dir zurückhaben will.“ Die Generosität hebt diese Reziprozität auf. Sie gibt, weil das Geben selbst bereichert und weil man in einer Gesellschaft, die von Generosität geprägt ist, von anderen beschenkt wird. Die Generosität ist gleich weit entfernt vom kalten Rechnen wie vom sich selbst verleugnenden Altruismus. Man könnte die Generosität als einen aufgeklärten Egoismus bezeichnen, der seine Selbstverwirklichung nicht in primitiver Bereicherung findet, sondern im Ausleben der ganzen Fülle menschlicher Empfindungen.
Die Anzeichen für das Wachsen einer solchen neuen gesellschaftlichen Moral sind unübersehbar. Immer mehr Menschen wenden sich ab von dem Dogma der Reziprozität und finden die Erfüllung ihres Lebens im Geben und Teilen. „Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“, sagte Victor Hugo. Angesichts der erschreckenden moralischen Leere des Kapitalismus ist es längst Zeit: für ein neues Leitbild, für Generosität.