: Eine Atmosphäre des Vertrauens
PINA BAUSCH Als Pina Bausch 1974 in Wuppertal ihre Kompanie gründete, waren Erfolg und Ruhm noch weit weg. Ein neuer Bildband zeigt erstmals Fotografien der Proben damals
VON FRANZISKA BUHRE
In einem Opernhaus älteren Baujahrs liegt der Ballettsaal meist etwas versteckt: Vom Bühneneingang aus sind mehrere Treppenhäuser und Flure zu durchqueren, bis routiniertes Klavierspiel signalisiert, dass die eingeschlagene Richtung stimmt. Vor dem Spiegel und an den Wänden eiserne Ballettstangen, an denen Tanzende in Trikot und Strumpfhosen mit ernsten Mienen ihr Training absolvieren. Zur anschließenden Probe setzen sich Choreografen meist mit dem Rücken zum Spiegel an der Kopfseite des Raumes – ihr Blick wird gemeinsam mit dem Spiegelbild zur mächtigen Kontrollinstanz.
Pina Bausch macht es 1974 unerhört anders: Sie verschiebt die Front für die Tanzenden und nimmt auf einem Stuhl an einer der beiden Längsseiten Platz. Wo der Spiegel im Dienste des Balletts Konkurrenz und Selbstzweifel nährte, lösen sich nun Gesichtszüge und die körperliche Anspannung der Tanzenden, sie wirken frei. Der Fotograf KH. W. Steckelings hat solche sensiblen Momente bei den Proben des Tanztheater Wuppertal 1974 und 1975 in rund 1400 Schwarz-Weiß-Aufnahmen eingefangen, von denen jetzt über 100 Bilder in Buchform erschienen sind. In ebenjenem Ballettsaal machen sich Pina Bausch und die Tanzenden in diesen Jahren daran, Bewegung und Komik, Rührung und Zusammenhalt, Musik und Kostüm noch einmal neu für sich zu erfinden.
Lange Holztische, im ganzen Raum verteilt, sind in der Entwicklungsphase von „Ich bring’ dich um die Ecke“ Laufsteg oder Dach über dem Kopf. Senkrecht aufgestellt bilden sie eine Wand oder dienen umgedreht als Bett oder einfach stehend als Sitzfläche für das Warten. So beschreibt es Salomon Bausch, Sohn von Pina Bausch und Vorstand der Stiftung ihres Namens, in seinem Vorwort.
Alle Tänzerinnen und Tänzer proben gemeinsam in einem Raum – auch diese Entscheidung Bauschs ist ungewöhnlich für ihre Zeit. Funken sprühen aus Gesichtern und Körpern, aber auch Erschöpfung, Geduld und Melancholie werden sichtbar. Vorsichtige Allianzen entstehen zwischen Männern und Frauen, eine Gruppe Männer nimmt bereitwillig Bauschs Anregungen entgegen, Ed Kortlandt genießt den Sprung und Hüftschwung in Frauenkleidern. Ihm ist zu verdanken, dass die im Buch abgebildeten Tänzerinnen und Tänzer namentlich genannt werden.
Mit den giftigen Kritiken zu „Fritz“, Bauschs erster Arbeit am Opernhaus 1974, hatten viele der Tänzer gehadert und erwogen, die Kompanie zu verlassen. Bei Steckelings sieht man nun diejenigen, die sich wirklich für die Arbeit mit Bausch entschieden hatten, ohne zu wissen, wohin das Tanztheater neuer Ausrichtung steuern würde. Ein Essay von Nora und Stefan Koldehoff ruft die damalige Atmosphäre des Vertrauens und ehrlichen Miteinanders der Beteiligten lebendig in Erinnerung.
Lange vor dem Glamour von Designerkostümen und Weltmusik reichten alte Schlager und Alltagskleider, um dem Tanz seine Menschlichkeit zurückzugeben. Steckelings hat übrigens nie eine Aufführung des Tanztheaters besucht. Seine behutsamen Beobachtungen berühren daher umso mehr. Der Ballettsaal ist mit der Sanierung des Opernhauses im Jahr 2007 verschwunden.
■ KH. W. Steckelings: „Pina Bausch backstage“. In Kooperation mit der Pina Bausch Foundation, herausgegeben von Nora und Stefan Koldehoff. Nimbus. Kunst und Bücher, Zürich 2014, 184 Seiten, 36 Euro