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Archiv-Artikel

Der feministische Spirit des Punk

DOKUMENTATION Ein Film erzählt die bisher weitgehend ausgesparte Geschichte weiblicher Selbstermächtigung im Seattle der 1990er Jahre

Den traurigen Anlass zur Vernetzung bildete die Vergewaltigung und Ermordung von Mia Zapata, Frontfrau der Punkband The Gits

VON THOMAS GROH

Seattle, frühe Neunziger. Eine vitale lokale Musikszene, die sich aus dem ursprünglichen Punk-Underground, dem politischen Hardcore und Alternativ-Rock speist, rückt mit Nirvanas überraschenden Erfolg schlagartig in den Fokus des weltweiten Musikbetriebs. Ein paar desillusionierte bis depressive Jungs erobern erst MTV, dann die Titelseiten der großen Musikblätter und schließlich die ganze Welt.

So zumindest das gängige Narrativ. Dass in Seattle weder eine homogene Szene noch ein homogener Sound herrschte, dass für jedes lanciertes Produkt der Majors ein Dutzend unabhängiger Bands unbeachtet blieb, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Doch blieben die Frauen der Seattler Szene auch in diesen nachgereichten Ausdifferenzierungen bislang auffallend ausgespart. Dabei gab es sie in großer Zahl – und sie haben verdammt viel zu erzählen, wie sich nun anhand der Oral-History-Doku „Rock, Rage and Self Defense“ über die Gründung der Initiative „Home Alive“ aus dem Punk-Spirit des „Do it yourself“ nachvollziehen lässt. Dabei handelte es sich um eine basisdemokratische Initiative, die – Jahre vor dem Siegeszug des World Wide Web, das den Zugriff auf Wissen demokratisierte – nicht nur Informationen über Rape Culture streute und der maßregelnden Rhetorik, die Frauen dafür verantwortlich macht, wenn sie vergewaltigt werden, etwas entgegensetzte, sondern auch und in erster Linie Frauen in kostengünstigen Kursen das nötige praktische Wissen vermittelte, um sich im Falle eines Falles gegen Täter effektiv zur Wehr zu setzen. Den traurigen Anlass zu dieser Vernetzung zur Selbsthilfe bildete die Vergewaltigung und Ermordung von Mia Zapata, Frontfrau der Punkband The Gits, im Jahr 1993.

Für ihre Oral History lassen die Regisseurinnen Leah Michaels und Rozz Therrien nun die zahlreichen Gründerinnen und Protagonistinnen der seitdem von vielen weiteren Frauen betreuten Organisation ausführlich zu Wort kommen. Anders als in üblichen Gute-Laune-Rockumentarys über sich zusammenraufende Underdogs geht es hier nicht bloß um die emblematische Verdichtung einer zweifellos beeindruckenden Erfolgsgeschichte, sondern um konkrete Erfahrungen: Neben den zahlreichen Ermüdungserscheinungen und nagenden Diskussionen, die jede um Konsens-Entscheidungen bemühte Initiative nach sich zieht, stehen deshalb auch die Schockwellen, die der Fall Zapata durch die Szene trieb, im Mittelpunkt: Waren vormalige Szenetreffpunkte womöglich doch keine sicheren Orte? Kannte Zapata ihren Vergewaltiger und Mörder? War er vielleicht sogar selbst Teil dieser Szene?

Anders als die ebenfalls in der Punkszene von Kathleen Hanna losgetretene, ungleich bekanntere „Riot Grrrl“-Bewegung blieb „Home Alive“ lange Zeit ein in erster Linie regionales Phänomen: Ein unbesungenes Stück feministische Geschichte, das mit diesem Film dem Vergessen ein wenig entrissen wird. Dass dieser aufgrund der zur Verfügung stehenden Mittel eher roh und ein wenig nach „learning by doing“ aussieht, passt auch ästhetisch gut zu diesem Stoff über die Selbstermächtigung der Marginalisierten: Michaels und Therrien haben keinen professionellen Film-Background, auf die Geschichte von „Home Alive“ stießen sie bei einem Uni-Seminar über Indie-Rock und Underground-Musikszenen.

So fallen die Geschichte von „Home Alive“ und dieses Films darüber gut in eins: Vernetzung, Solidarität und eine gemeinsam getragene Initiative können Dinge zum Besseren in Bewegung bringen. Zur Erfolgsgeschichte von „Rock, Rage and Self Defense“ zählt daher eben auch, dass er als ursprüngliches Seminarprojekt nun auf internationale Kinotour geht – unabhängig vom Gutdünken etablierter Filmverleiher und Festivals, aber auf der Basis eines internationalen Netzwerks von Aktivistinnen.

Wertvoll ist dieser Film deshalb nicht nur wegen der historisch festgehaltenen Erfahrungen der „Home Alive“-Gründerinnen, sondern auch wegen seiner Message für heutige, von einzelnen Subkulturen längst losgelöste feministische Bewegungen: Raus aus der Vereinzelung – gemeinsam sind wir stark!

■ „Rock, Rage and Self Defense: An Oral History of Seattle’s Home Alive“ läuft am 12. Januar um 20 Uhr im Moviemento Kino, Kottbusser Damm 22, in Anwesenheit der Filmemacherinnen

■ Website von „Home Alive“ mit einem Archiv für eigene Kurse: www.teachhomealive.org