: Hikikomori und Salaryman
FÄHRNISSE Der Überraschungserfolg dieses Frühjahrsprogramms: Milena Michiko Flasars Außenseiterroman „Ich nannte ihn Krawatte“
VON DIRK KNIPPHALS
Wirklich sehr lange keinen Roman mehr zu Ende gelesen, der den literarischen Konsens, dass über große Gefühle nur spärlich und auch nur indirekt zu reden sei, so sehr missachtet wie dieser. Milena Michiko Flašar (Jahrgang 1980, Vater Österreicher, Mutter Japanerin, deshalb der zweite Vorname) fängt ganz langsam an. Aber dann kommt es knüppeldick. Um ihre Geschichte zu illustrieren, bietet sie Selbstmorde, Selbstmordversuche und sterbende Kleinkinder auf, die krebskranke Frau eines Klavierlehrers kommt noch hinzu; es wird einem beim Lesen manchmal eindeutig zu viel. Bei anderen Romanen wäre man längst ausgestiegen. Bei diesem Roman aber bleibt man dran. Er ist der Überraschungserfolg dieses Frühjahrs. Warum?
Weil sie inmitten ihrer großen Motive viele schöne kleine Sprachbilder findet. Weil sie eine zögerliche, immer wieder mit unvollständigen Sätzen operierende Sprache gebaut hat, die gut zu dem Zögern des Ich-Erzählers passt, mit dem Erzählen überhaupt anzufangen. Weil sie ein kunstvolles Netz an Quer- und Rückverweisen gesponnen hat, das den aufmerksamen Leser mit Augenblicken des Wiedererkennens belohnt. Und weil sie kleine, flüchtige Momente aufscheinen lassen und zum Leuchten bringen kann: „Hin und wieder kam jemand vorbei. Eine Mutter, die einen Kinderwagen schob. Ein hinkender Mann. Ein Grüppchen Schulschwänzer in zerknitterten Uniformen. Die Erde drehte sich. Auffliegende Vögel. Ein Schmetterling, der sich für Sekunden auf der Bank gegenüber niederließ. Nebeneinander sitzend, schauten wir ihm nach, wie er davonschwebte. Leise Ahnung, dass es von nun an kein Zurück mehr gäbe.“
In die Welt zurückfinden
Milena Michiko Flašar erzählt von zwei Menschen, die sich tagtäglich auf einer Parkbank in Tokio treffen. Der Jüngere ist ein Hikikomori, ein Heranwachsender, der jahrelang sein Zimmer nicht verlassen hat; in Japan ist das offenbar ein so weit verbreitetes Phänomen, dass es einen eigenen Begriff dafür gibt. Erzählt wird, wie er in die Welt zurückfindet. Er ist der Ich-Erzähler. Der Ältere ist ein Salaryman, ein Angestellter also, der entlassen wurde, was er seiner Frau aber nicht gesagt hat, weil er ihr gegenüber den Schein aufrechterhalten möchte. Jeden Morgen geht er pünktlich im grauen Anzug mit Krawatte aus dem Haus, um die Bürozeiten auf der Bank abzusitzen. So kann er seiner Frau zumindest noch ihren Alltag bieten, von dem er annimmt, dass sie ihn braucht und liebt.
Die Grundkonstellation ist also nicht ganz unkitschig: zwei Außenseiter im Park, die sich anfreunden. Solange das Buch direkt bei ihnen bleibt, ist alles gut. Wie sie sich erst tagelang schweigend gegenübersitzen. Wie sie allmählich ins Gespräch kommen. Wie sie sich gegenseitig ein Anker werden. Das alles ist glaubwürdig, dezent, ja fast scheu erzählt. Die Neigung der Autorin zu allzu direkten Schicksalschlagsmotiven kommt dann aber daher, dass sie meint, das Außenseitertum der Figuren in der Boshaftigkeit der Welt verankern zu müssen. Mobbing, hänselnde Mitschüler, Eltern, denen der Ruf bei den Nachbarn wichtiger ist als das eigene Kind – erst trägt Milena Michiko Flašar zu dick auf; schließlich sind wir alle halb Außenseiter, die dieses Gefühl eh verstehen, halb aber auch den anderen Außenseitern oft dasselbe Ärgernis, das sie auch uns sind. Und am Schluss, wenn sich das alles in Richtung eines Neuanfangs lichtet, ist sie didaktisch.
Am meisten hat man wohl von diesem Roman, wenn man ihn nicht als realistische Gegenwartsanalyse liest, sondern als schöne, traurige, perfekt gebaute Ballade über die schwankenden Fährnisse des Auf-der-Welt-Seins. Manchmal müssen wir uns offenbar erzählen, dass wir verletzliche, fühlende, endliche, fehlbare Menschen sind und verloren, wenn wir einander nicht finden. Es ist dann alles in allem eine große erzählerische Leistung, dass Milena Michiko Flašar diesen Gedanken im Leser zu erwecken vermag.
Viele Momentbeschreibungen sind eben wirklich großartig. Irgendwann überlegt der Ich-Erzähler, ob man Menschen wie ihn braucht. „Die keinen Abschluss, keine Ausbildung, keine Arbeit, nichts vorzuweisen, nichts gelernt haben außer dieses: Dass es sich lohnt, am Leben zu sein.“ Bücher, denen es gelingt, genau das vorzuweisen, braucht man auf alle Fälle dann und wann. Inmitten all seiner zu dicken Bilder ist in diesem Roman so ein Buch enthalten.
■ Milena Michiko Flasar: „Ich nannte ihn Krawatte“. Wagenbach, Berlin 2012, 142 Seiten, 16,90 Euro