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Archiv-Artikel

Die Revolution findet im Keller statt

KLEINSTKRIEGE Panzer in Prag, Steinewerfer in Berlin und ein Soldatenbordell in Saigon – der Modellbauer Matthias Schmeier hat keine Lust auf Märklineisenbahnen

Matthias Schmeier

■  Weg: Schule im Saarland, Ausbildung zum Stuckateur. Anfang der Achtziger in der Anti-AKW-Bewegung, Umzug nach Köln. Später Autonomer. Aktiv bei Protesten gegen die atomare Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf und den Bau der Startbahn-West des Frankfurter Flughafens. Heute Lehrer und Familienvater, verheiratet mit einer katholischen Theologin.

■  Welten: Nachbauten im Kleinstformat. Maßstab 1:35. Kriegsschauplätze: Vietnam, Bosnien, Spanien, Libanon, Nordirland, Berlin-Kreuzberg. Kleinste Details: Puppe eines Flüchtlingskindes; Zigarette im Mundwinkel eines spanischen Anarchisten.

VON ALEM GRABOVAC

Wer an allem Guten teilhaben will, muss auch zu Stunden klein zu sein verstehen.

Friedrich Nietzsche, „Mensch-   liches, Allzumenschliches“

Dort, wo andere ihre Eisenbahn durch romantische Berg-und Tallandschaften fahren lassen, wird bei Matthias Schmeier geschossen, geschrien und gestorben. Abends und an den Wochenenden erschafft er kleine Welten im Maßstab von 1:35. In stundenlanger Kleinstarbeit baut und bastelt er in seinem Keller ungewöhnliche historische Szenarien nach. Seine Dioramen – so nennt die Fachwelt solche Nachbauten der Wirklichkeit – handeln von Flucht und Gewalt und Krieg.

Man sieht eine Hinrichtung vor einer Kirche im Spanischen Bürgerkrieg, ein zerbombtes Haus in Sarajevo, eine Schlacht zwischen Autonomen und Polizisten in Berlin-Kreuzberg. Die heile Welt der Modellbauszene mit Dampflokomotiven und heroisch-verklärenden Kriegsdarstellungen interessiert ihn nicht. Er will an Kämpfe für Gerechtigkeit und Freiheit erinnern.

Der 1. Mai als Diorama

Matthias Schmeier ist 46 Jahre alt, lacht viel, trägt eine schlichte Jeans und ein blaues Hemd, ist Familienvater und sieht mit seiner ruhigen Art und Weise nicht wie jemand aus, der ein wildes und bewegtes Leben hinter sich hat. Der Eindruck täuscht. Mit Anfang zwanzig mischte er in der Hausbesetzerszene mit, war als Autonomer im schwarzen Block aktiv und von Wackersdorf bis zur Hafenstraße überall dabei. In dieser Phase hatte er die Idee mit den Miniaturwelten. „Ich habe schon immer gern gebastelt, und dann habe ich eines Tages in dem Schaufenster eines Spielzeugladens ein rotes Feuerwehrauto gesehen und mir gedacht, dass man daraus einen Wasserwerfer machen könnte. Na ja, auf den Wasserwerfer folgte eine ganze Straßenschlacht und mein erstes Diorama ‘Kreuzberger Maifestspiele’“.

Er erzählt das bei Kaffee und Sonnenschein im Garten seines Hauses in Köln-Pesch. Die Vögel zwitschern, und ein niedriger Zaun grenzt die Rasenfläche von der der Nachbarn ab. Früher, in seiner WG in Köln, gab es viele Bücher. Er war begeistert von Hermann Hesse, Bertolt Brecht und Boris Vian und begann eine Ausbildung zum Buchhändler. In dieser Zeit ist er nach Belfast und Nicaragua gefahren, um die Revolution zu unterstützen, hat gegen die Startbahn-West gekämpft und in einem linken Buchladen gearbeitet. Und an Dioramen gebastelt.

Aber so ein revolutionäres Leben ist anstrengend – irgendwann hat er kein Geld mehr und auch keine Lust auf nächtelange Diskussionsrunden. Er holte sein Abitur nach. Studium, Geschichtslehrer, Familiengründung, Einfamilienhaus. „Ich hatte einfach keinen Bock mehr auf Revolution.“ Er sagt das mit einer gewissen rheinländischen Gelassenheit: „Ich bin der typische Genosse mit Bausparvertrag.“

Seine beiden Söhne sind in einen Waldorfkindergarten gegangen, er hat sich als einer der Ersten im Viertel ein Solardach aufs Haus gebaut, seinen Schülern versucht er ein kritisches politisches Bewusstsein zu vermitteln. Und dann gibt es noch seine kleinen historischen Dramen.

Wann immer es die Zeit erlaubt, steigt er die winkelige Treppe hinab in den Keller, um an seinen Miniaturen zu arbeiten. Sobald man die Kellertür öffnet, hat man das Gefühl, schlagartig in eine andere Welt hineinzugeraten. Oben der Garten und die lichtdurchfluteten bürgerlichen Zimmer und hier unten ein kleines fensterloses revolutionäres Kämmerlein, in dem gelitten, gekämpft und gemordet wird. Im Zimmer ein Stuhl und eine Werkbank, über die amerikanische Kampfhubschrauber kreisen. An den Wänden Poster von Lenin und Kreuzberger Straßenschlachten. Es riecht nach Gips, Spachtelmasse, Airbrush und Wasserfarben. Rechts ein Regal mit historischen Nachschlagewerken und Bildbänden, die ihm als Vorlage dienen, und links viele beschriftete Kästchen, ein kleines Gruselkabinett des Dr. Mabuse, mit winzigen Armen, Köpfen, Beinen und Händen. Er modelliert die Figuren mit Sägen, Spachteln, Lötkolben und einem ausrangierten Zahnarztbohrer. Für eine Figur braucht er zwei bis vier Stunden, für ein ganzes Diorama ungefähr zwei Jahre.

Solch eine Miniaturwelt setzt sich aus hunderten mannigfaltigen Einzelheiten zusammen. Die Maßstabsverkleinerung zwingt den Betrachter, genau hinzuschauen, Details zu entdecken und sich in die historischen Szenarien zu vertiefen.

Verzweifelte Menschen klettern mit ihren Habseligkeiten auf das Dach eines völlig überfüllten Busses in Saigon, unterdessen US-Soldaten mit Maschinengewehren das Flüchtlingschaos zu ordnen versuchen. Schon ist man mittendrin, fragt sich, ob diesen GI in einem vietnamesischen Bordell ein schlechtes Gewissen plagt, wohin diese Frau mit dem Kind auf dem Arm in den zerstörten Straßen Sarajevos jetzt geht, ob der Mann im Prager Frühling von dem russischen Panzer überrollt wird und was für ein Leben diese Leiche links unten in Beirut hatte. Der Krieg wird erfahrbar und es ist, als könnte man im Schmeier’schen Keller die Schreie und Schüsse aus Belfast, Beirut, Sarajevo oder Saigon hören.

Wir verlassen die dunklen Gemäuer, gehen wieder hoch zum Licht, hoch in die gute bürgerliche Stube. Seine Frau und seine zwei Söhne im Alter von fünf und neun Jahren sind mittlerweile nach Hause gekommen. Bald wird es Abendessen geben, und vielleicht schafft er es, nachdem er die Kinder zu Bett gebracht hat, heute noch für ein paar Stunden an der nächsten Revolution zu tüfteln.

Momentan verfolgt er aufmerksam die arabischen Demokratiebewegungen. Ein Diorama über den Tahrirplatz in Kairo oder die Befreiungskämpfe in Libyen könne er sich gut vorstellen, sagt er. Er würde seine Miniaturwelten auch gern ausstellen, aber weder kann er mit der klassischen Modellbauszene noch diese mit seinen Darstellungen etwas anfangen.

Aber vielleicht klappt es mal mit einer Galerie. Oder in einer Buchhandlung, sagt er. Die ganze Literatur stünde um das Diorama herum, all die Bücher und Fotobände zum irischen Osteraufstand, zum Bürgerkrieg in Exjugoslawien oder zur westdeutschen Hausbesetzerszene. Die Leute würden nachdenken und diskutieren. „Ja“, sagt Matthias Schmeier, „das wäre schon noch so ein Traum von mir.“