: Vorbewusste Ebenen entstimmen
KLANGERFAHRUNG Nichteingeweihten scheint das seit 10 Jahren stattfindende Festival Club Transmediale ein Rätsel zu sein. Doch gerade das Loslösen aus der analytischen Wahrnehmung von Musik ist Teil des Programms
Das CTM Festival für experimentelle und elektronische Musik in Berlin wurde 1999 als Begleitveranstaltung zur transmediale –Festival für Kunst und digitale Kultur – gegründet. Neben aktuellen Trends der elektronischen und experimentellen Musik präsentiert es künstlerische Projekte im Umfeld zeitgenössischer Musik. Veranstaltungsorte: Astra Kulturhaus, Revaler Straße 99; Berghain/Kantine, Am Wriezener Bahnhof; HAU 1, Stresemannstraße 29 (+49 30 259 004 27); HAU 2, Hallesches Ufer 32 (49 30 259 004 27); HAU 3, Tempelhofer Ufer 10 (+49 30 259 00427); HKW, John-Foster-Dulles-Allee 10 (+49 30 39787175), Kunstquartier & Kunstraum Kreuzberg, Bethanien, Mariannenplatz 2; Native Instruments Office, Schlesische Straße 29–30; Urban Spree, Revaler Straße 99; Where is Jesus? Temporary Space, Wrangelstraße 57 (+49 30 91561029); Yaam, Stralauer Platz 33–34
■ CTM 2015 – Un Tune: 23. 1.–1. 2., Eröffnungskonzert am 24. 1. um 19.30 Uhr im HAU 1, Festival-Pässe 100/150 Euro oder Transmediale-Kombi-Tickets unter: www.ctm-festival.de ■ transmediale 2015 – Capture All: 28. 1.–1. 2., www.transmediale.de
VON DORIS AKRAP
Das Festival Club Transmediale, CTM, ist ein riesiges und für nie Dagewesenes rätselhaftes Labor. Zum 16. Mal versammelt es zehn Tage lang Avantgardemusiker – und -künstler, die größtmöglichen Krach und subtilste Frequenzen in Konzerten, Performances und Ausstellungen in Köpfe und Körper der Zuhörer bringen, was mal verstört, mal entzückt und auch mal kalt lässt. Liest man als Nichteingeweihter das Programm, kann man sich schnell verloren fühlen, weil die wenigsten Namen vorher in deutschen Musikfeuilletons standen. Davon darf man sich aber nicht abschrecken lassen. Das Festival ist auch für Auskenner immer so etwas wie eine Messe, auf der man die Neuerscheinungen betrachtet und erlebt, denn viele der Künstler treten zum ersten Mal in Deutschland auf.
Im Vordergrund der CTM stand immer das Material und nicht der Künstler. Zwar gibt es immer auch Popmusik, dieses Jahr beispielsweise von der Elektropop-Band Simian Mobile Disco. Das eigentlich Interessante aber ist das Eintauchen in diese experimentelle und abgedrehte Geräuschwelt, die man in dieser Dichte nur einmal im Jahr erleben kann. Es ist nicht das eine Konzert – es ist das Körpergefühl, das man so schnell nicht mehr vergisst. Dass Musik, digital oder analog erzeugt, immer eine körperliche Reaktion auslöst, mag eine Binse sein. Aber über die körperliche Wirkung von Tönen und Klängen zu reden, ist weder angesagt noch einfach. „Im Vordergrund des Schreibens und Redens über Musik stehen oft identitäre Konstrukte, kulturelle Kontextualisierungen“, sagt Jan Rohlf, Gründungsmitglied und einer der Kuratoren des CTM. „Wir wollen uns dieses Jahr mit den vorgeschalteten Affekten, mit physiologischen und psychobiologischen Reaktionen auf Klänge, Frequenzen und Impulse beschäftigen. Wir haben Künstler eingeladen, die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Entstehung von Intensitäten verarbeiten und dadurch bewusst machen, dass es immer eine vorbewusste Ebene gibt.“
Einer von ihnen ist der Finne Aleksi Perälä, der im Berghain seine „Colundi Sequence“ vorführt, ein „Reservoir kultureller Imaginationen“, wie Jan Rohlf sagt. Seine experimentelle Versuchsanordnung ist eine Komposition aus 128 Frequenzen, die er der Physik, der Astronomie, der Mystik, der Esoterik oder der Medizin entnommen hat.
Die Resonanzen sollen aber nicht nur in dem überwältigenden Verstärkerraum Berghain mit seinem mächtigen PA-System erfahren werden. In einer Ausstellung im Kunstraum wird die Installation der US-Amerikanerin Claire Tolan „Always here for you: ASMR“ gezeigt. ASMR steht für Autonomous Sensory Meridian Response und wird definiert als ein Kribbeln, das auf der Kopfhaut beginnt, die Wirbelsäule entlangläuft und entspannend sein soll. Videos zeigen, welche Wirkung das Flüstern, das Kratzen von Fingernägeln auf Tischen oder das Kämmen des Haars auf den Betrachter beziehungsweise Zuhörer hat, der das Video gerade dreht. „Das ist alles ganz leise, fein, hat viel zu tun mit Erinnerungen an häusliche Sorge, kindliche Zuwendung. Es ist ein regressives Moment, aber ein sehr wirkmächtiges“, sagt Rohlf.
Was die Veranstalter damit sagen wollen? „Uns interessiert die psychedelische Erfahrung, wie es dazu kommt, dass man durch äußere Einflüsse von einer gewohnten Position weggeschubst wird, ins Schleudern, Schwimmen, Schweben gerät. Das sind die Dinge, nach denen Menschen suchen, wenn sie Musik hören. Das Loslösen aus der kontrollierten, analytischen Wahrnehmung ist sehr stark kritisiert worden. Wir wollen jetzt mal ausprobieren, ob und wie man diesem Eintauchen auch etwas Positives abgewinnen kann.“
Es gibt noch eine zweite Ebene, eine eminent politische, die mit dem diesjährigen Motto „Un Tune – Exploring Sonic Effect“ bewusst gemacht werden soll. Was sich erst mal kaum übersetzen lässt, erklärt Kurator Jan Rohlf: „Un Tune ist das Einstimmen und das Stimmen. Es geht uns um die Leerstelle zwischen den beiden Wörtern. Auf einem Konzert stellt man sich doch immer die Frage, ob mein Nachbar das Gleiche empfindet? Oft ist das dann so, aber immer auch anders. Und das ist eine Grunderfahrung in einer pluralistischen Gesellschaft von Gleichen, die anders sind und mit Anderssein umgehen können müssen. Man kann fragen, ob es so erstrebenswert ist, immer diese gleichgestimmte Erfahrung zu haben, darin steckt ein gewisses totalisierendes Potenzial, das wir auch aus anderen Zusammenhängen kennen.“
Das beste Gegengift gegen das Einschwören auf die eine, richtige Wahrnehmung in diesen Tagen ist also definitiv das CTM. Ich kann es kaum erwarten, entstimmt zu werden.