: Ein Exzess des Schönklangs
KONZERT Der „Canto Ostinato“ im Heimathafen als Versuch, wie Gefälligkeit in Überlänge funktioniert
Wenn die Menschen in Aldous Huxleys Roman „Schöne neue Welt“ merken, dass sie stimmungsmäßig in den negativen Bereich rutschen könnten, greifen sie einfach zum Soma. Eine Droge, die nur stimmungaufhellend wirkt und sonst keinerlei Nebenwirkungen hat. Um es sich damit halt einfach und wie in der „Brave New World“ unbedingt gewünscht mal wieder so richtig schön zu machen.
Aber es gilt wohl auch, was schon die Einstürzenden Neubauten sangen: „Keine Schönheit ohne Gefahr“.
Womit man bei der Musik ist. Am Donnerstagabend wurde im Heimathafen Neukölln der „Canto Ostinato“ von Simeon ten Holt (1923–2012) aufgeführt. Eine Art musikalisches Soma, das der niederländische Komponist in den siebziger Jahren geschrieben hat: In den harmonischen Wendungen klingt der „Canto Ostinato“ nach Romantik, seiner Struktur nach aber hat er damit weniger zu schaffen und mehr mit der ja in den Siebzigern zu ihrer großen Form aufgelaufenen Minimal Music.
Den Interpreten seines Stücks gönnt ten Holt dabei allerlei Freiheiten. Es kann mit unterschiedlichen Instrumenten aufgeführt werden, die Zahl der Musiker ist nicht fixiert, und die wiederum können die einzelnen Teile der Komposition fast beliebig kombinieren und vor allem beliebig oft wiederholen – das Mittel der Repetition ist grundlegend für das Stück –, so dass beim „Canto Ostinato“ eine „werkgetreue“ Aufführung in der Dauer von einer normalen Konzertlänge bis zur tagelangen Performance schwanken kann.
Ein Nicken Richtung Satie
In dieser Wendung der schieren Aufführungslänge ist der „Canto Ostinato“ damit auch ein anerkennendes Nicken des Nachgeborenen, also ten Holts, an Erik Satie, der mit seinen „Vexations“ das Prinzip der scheinbar endlosen Reihung eines schlichten musikalischen Motivs wohl als Erster so konsequent konzipiert hat. Wobei man die Komposition von Simeon ten Holt (er studierte bei Arthur Honegger und Darius Milhaud, die wiederum ihre Beziehungen zu Satie hatten) als Versuchsanordnung hören kann, wie viel Schönheit man aushalten kann in einem Ausdauerlauf in Sachen Harmonie.
Von Dissonanzen will man im „Canto Ostinato“ nämlich gar nichts wissen bei den forciert einfach gehaltenen Motiven und Melodiepartikeln. Hartnäckig werden sie wiederholt in ihrer betonten Gefälligkeit, so dass man schon auch was von Kitsch seufzen könnte – nur dass es das in seiner unerschütterlichen und damit fast brutalen Reihung als KitschKitschKitschKitsch gar nicht mehr sein kann. Nicht einfach nur Kitsch. Und von einer Meditation möchte man eigentlich auch nicht sprechen. Eher von einer Operation an der Schnittstelle zwischen sedierender Beruhigung und einer überreizten Erregung. Da steckt auch etwas verstörend Radikales in diesem Exzess des Schönklangs.
Jeroen und Sandra van Veen spielten das an ihren zwei Flügeln im Heimathafen so, wie man den Canto wohl am besten angeht, in einem stoischen Gleichmut, weitgehend nüchtern, allzu Expressives meidend, mit einer verhaltenen Empathie. Als Untersuchung eben über den Sog der Schönheit.
Nach neunzig Minuten hörte das Stück einfach auf. Was damit noch einmal klarmachte, dass es hätte auch endlos so weitergehen können. Ungerührt, ungerundet. Nichts abgeschlossen und einen gar nicht mehr loslassend. Das aber kann schon auch eine entsetzliche Vorstellung sein. THOMAS MAUCH