LEUCHTEN DER MENSCHHEIT SONJA VOGEL : In den Hosen der anderen
Wenn Deutschland nicht Fußball schaut, widmet es sich seinem zweitliebsten Volkssport: andere maßregeln. Nach der Fußball-EM war es wieder so weit. Kollektiv versenkte man sich in „fremder Männer Hosen“ (Navid Kermani), schimpfte über ein barbarisches Ritual, stellte die Religionsfreiheit und – wo man schon dabei war – die Empathie muslimischer und jüdischer Eltern in Frage. Auslöser der Aufregung war ein Urteil des Kölner Landgerichts zur religiösen Knabenbeschneidung. Mittlerweile hat der Bundestag diese gesetzlich geregelt.
Während jüdische und muslimische Gemeinden erschraken ob einer wenig sachlichen und durch Stereotype vom Kinder quälenden Juden und vormodernen Muslim getragenen Debatte, lehnt die deutsche Mehrheit den Bundestagsbeschluss ab. Einmal mehr wurde mit dem Finger auf jene gezeigt, die man ohnehin nicht als vollwertigen Teil der säkularisierten Gemeinschaft empfand.
Zülfukar Çetin und Salih Alexander Wolter fragen, warum ausgerechnet jene, „die über einen mehrheitsdeutschen Hintergrund verfügen, unentwegt über den Verlust der Vorhaut klagen (können), die sie selbst in der Regel besitzen“ („Interventionen gegen die deutsche Beschneidungsdebatte’“. Edition Assemblage 2012). Hinter dem Pochen auf das universelle Recht auf „körperliche Unversehrtheit“ lauert nach ihrer Darstellung der Paternalismus gegenüber den Partikularisierten. Es heißt: Wir, die Aufgeklärten und ihr, mit eurer Bringschuld gegenüber unserer fortgeschrittenen Gesellschaft.
Die Blindheit gegenüber einer Realität der Ausgrenzung, die eisern regelt, wer über was sprechen darf, entlarvt die Sprecher selbst als deren Nutznießer. Schließlich bewegen wir uns in einem Kontext, in dem die christlich säkularisierte Mehrheit die „jüdisch-christliche Tradition“, die sie nun aufkündigt, erst konstruiert hatte – um eine lange Tradition des Antisemitismus vergessen zu machen – in dem sich die antiislamische Kulturkampf-These etabliert hat.
■ Die Autorin ist ständige Mitarbeiterin der Kulturredaktion