: Ein Rätsel namens Vater
DOKUMENTARFILM In „Bonne Nuit, Papa“ versucht die Regisseurin Marina Kem, sich ihrem kambodschanischen Vater anzunähern – jetzt ist der Film in Berliner Kinos zu sehen
Zwei Jahrzehnte lang erschien die Lebensgeschichte des Ottara Kem wie die einer gelungenen Integration. 1965 kam der Kambodschaner nach dem Abitur mit einem Stipendium in die DDR, um Maschinenbau zu studieren.
Gescheiterter Chaot
Eigentlich wollte er nach der Promotion zurück nach Kambodscha, die Familie hatte schon eine Ehefrau für ihn ausgesucht. Aber als Anfang der 70er Jahre in Kambodscha der Bürgerkrieg ausbricht und das Leben immer härter und gefährlicher wird, schreibt ihm sein ältester Bruder, er solle „im fremden Land bleiben“. Das ist für Jahre die letzte Nachricht von seiner Familie. Die meisten seiner Angehörigen werden in den kommenden Jahren von den Roten Khmer ermordet.
Ottara Kem, Protagonist des nun anlaufenden Dokumentarfilms „Bonne Nuit, Papa“, bei dem die eigene Tochter Regisseurin ist, bleibt also in der DDR. Er heiratet eine Deutsche, mit der er zwei weitere Töchter hat, und arbeitet in der Forschungsabteilung eines Kombinats für Landmaschinen. Aber er wird immer stiller, zieht sich in sich selbst zurück. Weil sie nicht mehr zu ihm durchdringt, lässt seine Frau sich schließlich von ihm scheiden. Seinen Kindern bleibt er ein Fremder. Als er nach der Wende seine Arbeit verliert, vegetiert er in seiner Dresdner Ein-Zimmer-Plattenbau-Wohnung alleine vor sich hin und verfasst düstere Texte, in denen er sich als „gescheiterten Chaoten“ beschreibt.
Auch die Versuche seiner ältesten Tochter Marina – der Regisseurin –, sich dem fremden Vater anzunähern, haben wenig Erfolg. Kem spricht nicht von seinen Sorgen, seinem Heimatland. Nur ein paar Bemerkungen zur tropischen Vegetation lässt er gelegentlich fallen. Auch Khmer, die Sprache der Kambodschaner, lernt sie nicht. Ihr Vater versucht stattdessen, ihr Französisch beizubringen. „Bonne Nuit, Papa“ ist das Einzige, was bei ihr hängen bleibt.
Eine gemeinsame Reise nach Kambodscha, die Vater und Tochter näher zusammenführen soll, wird zum Fiasko: Marina reist nach zwei Wochen ab, der Vater flüchtet zur Verblüffung seiner kambodschanischen Verwandten ans Meer. Erst als bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert wird und er dem Sterben nahe ist, bemüht er sich zum ersten Mal darum, sich seinen Töchtern mitzuteilen. Da es der letzte Wunsch ihres Vaters war, in Kambodscha begraben zu werden, reist sie mit seiner Urne zurück in dessen Heimat und lernt seine Familie dort richtig kennen. Und sie beginnt den Dokumentarfilm „Bonne Nuit, Papa“ zu drehen, um ihren Vater wenigstens im Nachhinein zu verstehen.
Im Nachlass tauchen Familienfotos aus Kambodscha auf, Tagebuchnotizen, selbst geschriebene Kurzgeschichten, die den Vater als intelligenten und aufmerksamen Beobachter und tief empfindendes Gemüt erscheinen lassen. Es ist schwer, das zusammenzubringen mit dem sprachlosen, unartikulierten Elend des gealterten Ottara Kem; im Film sieht man ihn auf dem Balkon, fahrig rauchend und hilflos grinsend.
Gute Montage-Sequenzen, kluger Toneinsatz
Marina Kem erzählt ihre Geschichte in aufgeräumten Bildern. Immer wieder gelingt es ihr, die geografische und kulturelle Distanz zwischen Deutschland und Kambodscha durch durchdachte Montage-Sequenzen und klugen Toneinsatz zu überbrücken. Irgendwann ist einem die entfernte kambodschanische Verwandtschaft in Kampong Cham fast so nahe wie die deutschen Angehörigen.
Nebenbei erzählt die Regisseurin in ihrem Film auch die dramatische Geschichte des Landes Kambodscha, das sich von dem Terror der Roten Khmer bis heute nicht vollständig erholt hat.
Allerdings wird in dem Film nicht ganz klar, dass die sozialen Bedingungen in dem Entwicklungsland inzwischen fast wieder so sind wie vor der Machtergreifung der Khmer-Rouge-Guerilla: eine kleine, städtische Elite in der Hauptstadt Phnom Penh lebt auf Kosten der bettelarmen Landbevölkerung ein bizarres Luxusleben.
Doch was genau geschah nun mit dem hoffnungsvollen, kambodschanischen Austausch-Studenten, der bei seiner Ankunft in der DDR aussah wie ein junger Gott? So ganz versteht man es auch am Ende von „Bonne Nuit Papa“ nicht – so wie Ottara Kem offenbar selbst nicht verstanden hat, was ihm zustieß.
TILMAN BAUMGÄRTEL
■ „Bonne Nuit, Papa“, Regie: Marina Kem, Dokumentarfilm, Deutschland 2014, 100 Min., Babylon Mitte, Brotfabrik