: Buenos Aires China Town
ENTFÜHRUNGSGESCHICHTE „Ein Chinese auf dem Fahrrad“ – der Roman des Argentiniers Ariel Magnus führt virtuos, humorvoll und kurzweilig ins asiatische Buenos Aires voller kultureller Rätsel und Verschwörungstheorien ein
■ Argentinien wird diesjähriges Gastland auf der Frankfurter Buchmesse sein, und so kann man sich über weitere, zahlreiche Neuerscheinungen der überaus produktiven argentinischen Literaturszene freuen.
■ Einen guten Einstieg in junge, teilweise subkulturell geprägte Literatur aus diesem Land bietet die soeben erschienene Anthologie „Asado Verbal“. Zusammengestellt wurde der Band von den Übersetzern Rike Bolte und Timo Berger. Beide sind ebenfalls Begründer der seit 2006 existierenden Latinale, einem im deutschsprachigen Raum einzigartigen Festival für lateinamerikanische Poesie.
■ „Asado Verbal“ präsentiert fünfzehn kurze abwechslungsreiche Erzählungen, die zusammen ein vielfältiges und differenziertes Bild der argentinischen Gesellschaft ergeben.
■ So skizziert die Filmemacherin und Autorin Lucia Puenzo („XXY“, „Das Fischkind“) in „Der Hase ist tot“ auf wenigen Seiten die komplexe Beziehung zwischen Hausangestellter und Herrschaft – dem gängigen Arbeitsverhältnis in einer nach wie vor existierenden semifeudalen Klassengesellschaft.
■ Ariel Magnus findet sich ebenfalls mit einem Auszug aus „Ein Chinese auf dem Fahrrad“ in diesem Buch.
■ Und auch Washington Cucurto, wahrhafter Vermittler von Populär- und Hochkultur sowie Betreiber des sympathischen Kleinverlags Eloisa Cartonera, beschreibt auf seine Art in „Der Mann mit dem blauen Helm“ das Leben als Regalauffüller in einem argentinischen Supermarkt: „Ich kenne alle Tricks. Ich habe für den argentinischen Neoliberalismus aufgefüllt, in den 1990er-Jahren, im Carrefour, vergesst das nicht, ich habe für den Menemismus und den Duhaldismus aufgefüllt.“ (eva-christina meier)
■ Timo Berger und Rike Bolte (Hrsg.): „Asado Verbal. Junge argentinische Literatur“. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010, 144 Seiten, Taschenbuch, 9,90 €
VON EVA-CHRISTINA MEIER
Im Sommer 2005 meldeten die argentinischen Medien die Festnahme von „El Fosforito“, einem chinesischem Brandstifter, der über Monate hinweg Möbelgeschäfte in Palermo, Caballito, Flores und anderen Stadtteilen von Buenos Aires in Brand gesetzt hatte. Kurz zuvor war der Schriftsteller Ariel Magnus nach sechs Jahren Aufenthalt in Deutschland wieder nach Buenos Aires zurückgekehrt.
Die Stadt hatte sich in der Zwischenzeit sichtbar verändert. Magnus fiel auf, wie chinesische Minimärkte und chinesische „All you can eat“-Restaurants zu einem festen Bestandteil des Alltags geworden waren. Und die Billigläden des traditionell jüdischen Viertels Once hatten nicht die Chinesen, sondern die Koreaner übernommen. An den bereits existierenden Vorstellungen der Argentinier von China und den Chinesen änderte dies allerdings kaum etwas.
Argentinische Leidenschaft
Ariel Magnus griff die Meldung über „El Fosforito“ (das Streichhölzchen) auf und setzte die Erzählung an dem Punkt fort, an dem sie für die Medien endete – bei der Verhaftung des Chinesen. Daraus entstanden ist sein dritter Roman „Ein Chinese auf dem Fahrrad“, eine virtuose Entführungsgeschichte, die den Leser in die unbekannte Parallelgesellschaft der chinesischen Community von Buenos Aires führt. Für diesen Roman erhielt Ariel Magnus 2007 den renommierten kolumbianischen Literaturpreis „La otra orilla“. Laut Cesár Aira, dem argentinischem Schriftsteller und Mitglied der Jury, wurde ihm diese Auszeichnung verliehen „für eine Liebesgeschichte, in der Abenteuer, Chinesen und die tausend Gesichter der glücklichsten aller argentinischen Leidenschaften – der Freundschaft – sich vermehren.“
Li (alias El Fosforito) kidnappt auf der Toilette des Gerichts nach der Urteilsverkündung den fünfundzwanzigjährigen Computer-Nerd Ramiro Valestra. Er soll ihm helfen, seine Unschuld zu beweisen. Ramiro wird in ein Haus irgendwo im Stadtteil Belgrano verschleppt, aber zu seiner Überraschung kümmern sich Li und seine zahlreichen, vermeintlichen Verwandten dort bestens um ihn. Erstaunt stellt er sogar bald fest, dass sich bei ihm ein diffuses Gefühl von Dankbarkeit gegenüber Li einstellt.
Natürlich vermisst Ramiro als guter Porteño Medialunas zum Frühstück und Choripan (Würstchen im Brot) für zwischendurch, doch erhält er im Gegenzug die Gelegenheit, sein altes, recht trübes Dasein gegen ein Leben mit neuen Aufgaben, ungewohnter Verantwortung und einem Gefühl von Glück einzutauschen.
Ariel Magnus’ Witz speist sich vor allem aus einem schier unendlichen Vorrat an gängigen Klischees sowie dem Spiel damit. Chinesen sind mafiös, schmutzig und bringen sich gegenseitig um. Nachts stellen sie in ihren Minimärkten die Kühlregale ab und zahlen ihren argentinischen Angestellten Hungerlöhne. Chinesen bevorzugen heiße, Argentinier dagegen eisgekühlte Getränke. Außerdem sind Letztere bekanntermaßen korrupt, unpünktlich und antriebslos.
Im Laufe der Erzählung tritt das Motiv für die Entführung, die Unschuld Lis mithilfe Ramiros zu beweisen, zunehmend in den Hintergrund. Immer wieder verschwindet Li tagelang und überlässt den Argentinier sich selbst in diesem Haus mit chinesischer Musik, chinesischem Fernsehen und chinesischem Essen.
Stattdessen lernt Ramiro schon bald den Japaner Lito und seinen Kumpel, den Chinesen Chen kennen. Lito kommt ursprünglich aus der Textilreinigungsbranche und ist nun irgendwie beim Film tätig. Chen, ein untersetzter Eunuch, arbeitet – wie soll es anders sein – in einem chinesischen Minimarkt. Gemeinsam hängen sie in chinesischen Restaurants ab oder sehen sich chinesische Martial-Arts-Filme an. Eines Tages werden Lito und Chen erdolcht (Harakiri!) in ihrer Wohnung aufgefunden. Aber nach all dem, was bis dahin bereits vorgefallen ist, und mit einer Ahnung von dem, was auch geschehen könnte, überrascht dieses traurige Ereignis niemanden.
Wunderliche Übersetzerin
Endgültig entzaubert beziehungsweise verständlich wird jene Welt für Ramiro, als er Yintai kennenlernt. Durch einen Zufall stellt der Porteño verblüfft fest, dass die Näherin, mit der er seit seiner Entführung unter einem Dach lebt, selbstverständlich auch Spanisch spricht. Plötzlich gibt es eine Übersetzerin für alles Wunderliche um ihn herum. Nun versteht er, warum etwa der alte Chop seinen Tee aus einer Nescafé-Dose trinkt (genaue Dosierung) und warum Suey die Pflanzen mit dem Reiswasser gießt (Sparsamkeit).
Doch während sich auf der einen Seite kulturelle Rätsel lösen, tun sich auf der anderen Seite neue Verschwörungstheorien auf. Und so legt Ariel Magnus eine weitere Spur und zitiert damit einen viel älteren Mythos – den der jüdischen Halbwelt von Buenos Aires und Stoff für andere spannende Romane wie „Man nennt mich flatterhaft und was weiß ich …“ des argentinischen Autors Edgardo Cozarinsky.
Li sieht sich als Opfer beziehungsweise als chinesischer „Sündenwok“ eines jüdischen Komplotts. Nachdem die Juden von den Chinesen (eigentlich leben dort Koreaner) aus Once vertrieben wurden, versuchen sie den Exodus in Belgrano, dem zweiten Stadtteil mit jüdischer Tradition in Buenos Aires, aufzuhalten. Ein eindeutiger Beweis dafür ist für Li alias El Fosforito der Bau einer Synagoge mitten in den chinesischen Arribeños von Belgrano. Zudem trägt die Synagoge den Namen „Amijai“, was auf Chinesisch klingt wie: „dreckige Massenansammlung mit halbgeschlossenen Augen“.
Ramiro: „Soll das etwa heißen, du hast die Möbelgeschäfte in Brand gesteckt?“
Li: „Ja und nein.“
■ Ariel Magnus: „Ein Chinese auf dem Fahrrad“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, 256 Seiten, 17,95 €