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Archiv-Artikel

Aus heutiger Sicht undenkbar

Selten hat ein Text in der taz so viele Reaktionen hervorgerufen wie der Gastbeitrag „Die fatale Schweigespirale“ von Franz Walter und Stephan Klecha am Montag über den Umgang der Grünen mit Pädophilie. Darin machten die von den Grünen beauftragten Wissenschaftler darauf aufmerksam, dass der heutige Spitzenkandidat Jürgen Trittin 1981 für ein Kommunalwahlprogramm in Göttingen verantwortlich zeichnete, in dem für die Freistellung von sogenannten gewaltfreien sexuellen Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen plädiert wurde. Kurz vor der Wahl sorgte das in der Politik für Aufregung, aber auch unter taz-LeserInnen und GenossInnen. Hier einige von etwa 1.000 Zuschriften. TAZ

Mein Entsetzen

■ betr.: „Union fordert Trittins Skalp“, taz vom 18. 9. 13

Mit viel ehrenamtlicher Zeit habe ich als grünes Mitglied versucht, Themen in diesen lähmenden Wahlkampf zu stecken: Landwirtschaft, Familie, Energiewende, Atomausstieg, Gerechtigkeit. Ob ich damit 20 oder 30 Leute dazu gebracht habe, irgendetwas jenseits von rechts und FDP zu wählen, weiß ich nicht. Dann kommt meine taz, die ich seit 20 Jahren gern lese, und bringt das Thema für die deutsche Medienlandschaft und die wahlschlachtenden PolitikerInnen in die letzte Wahlkampfwoche mit: Jürgen Trittin + Pädophilie. Ein ViSdP von 1981 als Thema für die nächste Legislaturperiode. Mein Entsetzen kann ich nicht beschreiben.

Meine Energie, jemals wieder etwas für bundespolitische Wahlen zu tun, ist weg. Wenn es bei Jürgen Trittin und anderen, die ihn begleiten, anders ist, weiß ich nicht, wie sie das machen. Und mein bisher gutes Verhältnis zur taz ist weg. WOLFGANG DEHLINGER, Salzkotten

Umbruchzeit

■ betr.: „Die fatale Schweigespirale“, taz vom 16. 9. 13

Ich bekenne. Ich bin 1979 Mitglied der Grünen geworden wegen ihrer ökologischen, sozialen und pazifistischen Politik und habe daher auf Parteitagen auch Programmen zugestimmt, in denen die Straffreiheit für „gewaltfreie und einvernehmliche Sexualität“ zwischen Erwachsenen und Kindern gefordert wurde.

Gab es eine Aufforderung zum Kindesmissbrauch? Es wurde nicht die Abschaffung des § 174 StGB und des § 176 StGB gefordert. Also: Das, was in der Odenwaldschule oder in katholischen Pfarrhäusern passiert ist, wäre immer strafbar geblieben.

„Gewaltfreie und einvernehmliche Sexualität“: Was war damit gemeint? Ist sie zwischen sehr ungleichen Personen wie Erwachsenen und Kindern überhaupt denkbar? Zwischen einem 50-jährigen „Sugar-Daddy“ und einer 15-Jährigen? Zwischen einer 19-jährigen Erwachsenen und einem 13-jährigen Jungen? Handelte es sich beim früheren jung-männlichen „Sport“ des „Flachlegens“ möglichst vieler junger Frauen um gewaltfreie und einvernehmliche Sexualität? Bei Prostitution? Wenn weder ein Schüler-Lehrer-Verhältnis noch ein ähnliches Abhängigkeitsverhältnis besteht, machen sich nach heutigem Recht weder „Sugar-Daddys“ noch Jungmänner oder Freier strafbar, die 19-Jährige dagegen schon. Strafbar macht sich auch ein 14-jähriger Jugendlicher wegen sexueller Beziehungen zu einem 13-jährigen Kind.

1980 war noch die Zeit des Auf- und Umbruchs der repressiven Sexualmoral. Wenige Jahre vorher war gerade erst die Strafbarkeit homosexueller Beziehungen aufgehoben worden. Bis 1994 waren homosexuelle Beziehungen zwischen einem 18- und einem 17-Jährigen strafbar. Unter Linksliberalen und innerhalb der Grünen wurde meiner Erinnerung nach nie die Meinung vertreten, dass sexuelle Beziehungen zwischen Ungleichen gut und zu fördern seien. Wir waren der Meinung, dass der Staat sich da raushalten solle, wenn Menschen „selbstbestimmt ihre Sexualität ausleben“ wollen. Dass das Strafrecht auch dem Schutz Schwächerer dient, haben wir dabei zu wenig berücksichtigt. Das „Pendel der sexuellen Befreiung“ schlug weiter aus als verträglich, das haben wir aber spätestens Mitte der 80er gemerkt und „auspendeln“ lassen. HORST SCHIERMEYER, Zittau

Verlogen

■ betr.: „Die fatale Schweigespirale“, taz vom 16. 9. 13

Diese Flachlandaufbereitung des Themas ist schwer erträglich. Jeder, der Ende der siebziger und in den achtziger Jahren alt genug war, die Entwicklung zu verfolgen, kann wissen, dass es nicht darum ging, Pädophilen das Leben zu erleichtern, sondern darum, anzuerkennen, dass Kinder und Jugendliche ein Recht auf ihre eigene Sexualität haben, ja dass sie überhaupt eine Sexualität haben. Es ging um die Abschaffung von Strafen und Reglementierungen durch Erwachsene (Eltern), die den Kindern vermittelten, dass Sexualität Schweinkram sei, dass Selbstbefriedigung dumm mache und schmutzig sei, dass es Körperregionen gibt, die man nicht anfasst usw. Es ging um die Veränderung einer körperfeindlichen, prüden Erziehung dieser Zeit. Es ging darum, dass der nackte Körper nichts Ekliges ist und Berührungen schön sein dürfen.

Pädophile sind auf diesen Zug aufgesprungen, das ist offensichtlich, aber Pädophilie war nicht der Zug. Pädophilie war kein offen diskutiertes Thema in unserer prüden Wirtschaftswunder-Nachkriegsära. Man muss diese Dinge im Kontext mit den Themen und Entwicklungen der damaligen Zeit sehen und kann sie nicht eins zu eins mit heutigen Augen betrachten. Kinder und Jugendliche haben damals in ihren Familien mehr Gewalt und Unterdrückung erfahren als heute. Es wurde nur mehr darüber geschwiegen. Nicht die Grünen oder die Stadtindianer sind das Problem. Das Problem ist damals wie heute eine verlogene und heuchlerische Gesellschaft, in der Kinder missbraucht wurden und werden. GABI AUTH, Essen

Moralkeule

■ betr.: „Vergangenheit statt Zukunft“, taz vom 17. 9. 13

In den 80er Jahren waren Die Grünen die einzige Partei, in der die Sexualität von Kindern und Jugendlichen diskutiert werden konnte. Dabei ging es gar nicht um die Interessen von Erwachsenen an Kindern, sondern um die Sexualität der Kinder und Jugendlichen, die von einer moralisierenden Gesellschaft unter die Bettdecke verdammt wurde. In diesem Zusammenhang haben Pädophile Die Grünen für sich instrumentalisiert, und zwar mit einigem Erfolg, weil „gewaltfreie Beziehungen“ ja schon als Fahrkarte für den Zug in eine harmonischere Gesellschaft galten. Wenn jetzt Reaktionäre wie CDU-Missfelder gegen Trittin die moralische Keule schwingen, sollten die Medien ihnen erst mal den Spiegel vorhalten, in dem sie ihre eigene zum „Sünder“ geschrumpfte Gestalt erkennen können. Die Diskussion über Sexualität von Kindern und Jugendlichen wird für lange Zeit erst mal wieder auf den katholischen Beichtstuhl beschränkt bleiben.

BERND H. SCHOEPS, Bochum

Merkwürdig

■ betr.: „Die fatale Schweigespirale“, taz vom 16. 9. 13

Wenn es zutrifft, dass die Grünen selbst den Auftrag zur Aufarbeitung ihrer frühen Parteigeschichte mit pädophilen Anwandlungen gaben und die damit befassten Wissenschaftler erst 2014 ihren Abschlussbericht vorlegen wollen, dann ist es aber sehr merkwürdig, dass ausgerechnet ein paar Tage vor der Bundestagswahl eine presserechtliche Verantwortung des Grünen-Spitzenkandidaten Trittin aus dem Jahre 1981 von der taz publiziert wird. Wäre die „Enthüllung“ zu diesem Zeitpunkt ohne das Dazutun der Grünen offenkundig geworden, dann könnte man zu Recht entrüstet sein. WOLFGANG SCHNEIDER, Altrip

Instinktlosigkeit

■ betr.: „Die fatale Schweigespirale“, taz vom 16. 9. 13

Ich halte Herrn Walter und Herrn Klecha zugute, dass sie sich in ihrem Beitrag um Abwägung bemühen, dennoch zeugt diese Veröffentlichung sechs Tage vor der Wahl von einer unfassbaren politischen Instinktlosigkeit. Für die historische Aufarbeitung der Pädophilie-Debatte der 80er ist es vollkommen unerheblich, ob diese Episode am 16. 9. oder am 23. 9. öffentlich wird, aber jedem politisch denkenden Menschen musste klar sein, dass die konservativen Parteien und Medien daraus einen Skandal fabrizieren würden, um Herrn Trittin und mit ihm die Grünen insgesamt unmittelbar vor der Wahl als Kinderschänder hinzustellen und dass das zu einem schlechteren Wahlergebnis für die Grünen führen wird. KLAUS BAILLY, Solingen

Steigbügel

■ betr.: „Vergangenheit statt Zukunft“ u. a., taz vom 17. 9. 13

Die Initiative zur Aufklärung der Verirrungen in der Anfangsphase der Grünen ging von ihr selbst aus, indem sie unabhängige Wissenschaftler damit beauftragte, Licht ins Dunkel zu bringen. Und sie hat, im Gegensatz zur katholischen Kirche, den Auftrag nicht zurückgezogen, um die Veröffentlichung von Details zu verhindern.

Dass jede Form von sexuellen Handlungen mit Abhängigen sowohl moralisch als auch rechtlich ein No-Go sein muss, steht außer Frage. Und Kinder als die abhängigste und damit machtloseste Gruppe müssen hier unter besonderem Schutz stehen. In diesem Zusammenhang erschließt sich mir der Begriff „Pädophilie“ nicht. Pädosexuelle lieben keine Kinder sondern ihre eigene Macht. Allgemein darf Sexualität nur einvernehmlich unter gleichrangigen Personen gelebt werden. Ob das etwa in der Prostitution oder mit Tieren der Fall sein kann, wage ich zu bezweifeln, da auch hier Macht, auch in Form von Geld, die treibende Kraft ist. Ich schätze die taz als Tageszeitung, gerade weil sie nicht mit dem Strom schwimmt, gesellschaftlich relevante Themen aufgreift, großartige Menschen ehrt, die normalerweise nicht im Scheinwerferlicht stünden, und sich bewusst positioniert. Den Steigbügel, den ihr da gerade für die Merkel-Regierung mit all ihrer rückwärtsgewandten, unsozialen und sowohl national als auch international nicht nachhaltigen Politik haltet, den verstehe ich nicht. STEFFI WEIGAND, Ilsede

Selbstreflexion

■ betr.: „Die grüne Verteidigungsstrategie …“, taz vom 17. 9. 13

Noch mal von Anfang: Die Grünen geben eine Studie in Auftrag, die einen bestimmten Teil ihrer Parteigeschichte aufarbeiten soll. Das ist Selbstreflexion nach bester Art, damit stehen sie keineswegs allein da (siehe Dopingstudie, Das Amt etc.). Erste Ergebnisse dieser Studie: Jürgen Trittin zeichnete als V.i.S.d.P. eines kommunalen Wahlprogramms, das Straffreiheit für pädophilen Sex fordert. Das ist aus heutiger Sicht undenkbar, eingeordnet in den zeit- und parteigeschichtlichen Kontext aber zumindest erklärbar. Dass es entsprechende Strömungen innerhalb der sich formierenden Grünen gab, wurde meines Wissens nie bestritten. Ebenso wenig streiten die Grünen die Ergebnisse des Instituts für Demokratieforschung ab oder versuchen – soweit ersichtlich –, deren Arbeit zu beeinflussen. Dies gilt für den Inhalt ebenso wie für die Zeitpunkte der Veröffentlichungen. Der Umgang von Beforschten mit Forschenden war letztens keineswegs so professionell. Ganz zu schweigen vom Krisenmanagement. „Aussitzen, herunterspielen, relativieren“ hat Nina Apin diese Strategie der Grünen am Dienstag beschrieben. Ich kann sie in den Worten Trittins: „Dafür trage ich Verantwortung. Das sind meine Fehler, die ich bedauere“ nicht erkennen.

Vielmehr hätte ich mich im politischen Betrieb der vergangenen Jahre, insbesondere 2011, aufrichtig gefreut, solcherart Eingeständnisse zu hören. Stattdessen waren die Dinge zunächst „abstrus“, und es wurde „zu keinem Zeitpunkt bewusst getäuscht!“, dann war doch der „Überblick“ verloren gegangen, und schließlich trat man den Soldaten und der eigenen Schonung zuliebe zurück.

Katastrophenmanagement, nicht nur im Falle Guttenberg, hat man schon anders gesehen. Und das ganz ohne Wahlkampf.

KERSTIN LOHR, Berlin

Gratulation

■ betr.: „Die fatale Schweigespirale“, taz vom 16. 9. 13

Damit ihr nicht nur die mitbekommt, die diese „Veröffentlichung jetzt!“ so schrecklich finden, möchte ich euch mitteilen, dass ich sie bei „aller Gefahr“ gerade deshalb für so wichtig halte, weil diese Offenheit der Diskussion zu einem Zeitpunkt der höchsten Beachtung (Bundestagswahl!) stattfindet. Das gehört zum „Charakter“ der Grünen für Ehrlichkeit und Transparenz – im Gegensatz zu anderen, die im Politikbetrieb stehen. Deshalb gratuliere ich euch zu dieser mutigen Entscheidung! Und ich würde es begrüßen, wenn recht viele gerade dies auch so verstehen würden. VOLKER BAHL, taz-Genossenschafter