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Archiv-Artikel

„Nicht nur ein Ort zum Kränzeablegen“

MAHNEN Den „Euthanasie“-Opfern widerfährt mit dem Denkmal in der Tiergartenstraße ein wenig Gerechtigkeit, sagt Sigrid Falkenstein

Sigrid Falkenstein

■ 68, erfuhr erst 2003 durch Zufall, dass ihre Tante im Rahmen der Aktion T4 ermordet worden war. Sie begann zu recherchieren und veröffentlichte die Ergebnisse 2012 in dem Buch „Annas Spuren. Ein Opfer der NS-‚Euthanasie‘ “. Seit 2007 ist Falkenstein Mitglied des Runden Tisches, zu dem die Stiftung Topographie des Terrors eingeladen hatte. Er setzt sich für ein angemessenes Gedenken für die Opfer der „Euthanasie“-Morde ein. Bei der Einweihungsfeier am Dienstag wird Sigrid Falkenstein auch ihrer Tante gedenken.

INTERVIEW HILKE RUSCH

taz: Frau Falkenstein, am Dienstag wird in der Tiergartenstraße 4 neben der Philharmonie das Denkmal für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde eingeweiht. Was bedeutet Ihnen dieser Ort?

Sigrid Falkenstein: Wenn ich dort bin, denke ich an meine Tante Anna Lehnkering. Sie wurde 1940 ermordet, da war sie 24 Jahre alt. Als ich 2006 das erste Mal auf den Erinnerungsort aufmerksam wurde, war ich entsetzt über die unscheinbare Gedenktafel, die dort im Boden eingelassen ist. Ich hatte den Eindruck, dass dieser öde Platz nur ein weiteres Symbol für das Vergessen der „Euthanasie“-Opfer war. Der Gedenkort, der nun eingeweiht wird, ist ein wichtiger Schritt, um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Sie haben 2003 per Zufall im Internet den Namen Ihrer Tante auf einer Liste von Opfern der „Aktion T4“ gefunden. Warum hatte in Ihrer Familie niemand darüber gesprochen, dass sie als Mensch mit Behinderung ermordet worden war?

Ich glaube, dass sich mein Vater geschämt hat, Teil einer angeblich „erbminderwertigen“ Familie zu sein. Vielleicht hatte er auch Schuldgefühle, weil er seiner Schwester nicht helfen konnte. Viele Familien, deren Angehörige getötet worden waren, sprachen nicht darüber. Aber gleichzeitig gab es auch ein gesamtgesellschaftliches Schweigen. Die alten eugenischen Denkmuster, dass Menschen mehr oder weniger Wert besitzen, waren noch zu sehr in den Köpfen – die sind ja teilweise bis heute noch latent da. Eine große Rolle spielte sicher auch, dass viele Täter der „Euthanasie“, also Ärzte, Juristen, Pflegepersonal, nach dem Krieg ihre Karrieren fortsetzten. Damit wurde den Opfern auch nach 1945 fürchterliches Unrecht zugefügt.

Als Sie von der Ermordung Ihrer Tante erfuhren, haben Sie das Gespräch mit Ihrem Vater gesucht. Wie war das?

Ich habe erst später richtig erfasst, wie schmerzhaft das für ihn gewesen sein muss. Einen Großteil der Geschichte scheint er verdrängt zu haben, denn er hatte unglaubliche Gedächtnislücken. Heute habe ich großes Verständnis für das Schweigen dieser Generation. Die Abwertung und Ausgrenzung psychisch Kranker und geistig behinderter Menschen hat auch meinen Vater stark geprägt. Aber weshalb Angehörige der zweiten oder dritten Generation heute noch nicht darüber sprechen wollen, verstehe ich nicht.

Jetzt wird der Gedenkort eingeweiht. Gibt es heute also den politischen Willen, das zu thematisieren?

Der Bundestag hat sich in dieser Hinsicht jahrzehntelang nicht mit Ruhm bekleckert. Den Opfern wurden Entschädigungen und die Anerkennung als Verfolgte des Naziregimes verweigert, bis heute gibt es keine Gleichstellung mit anderen NS-Opfergruppen. Als 2007 der Runde Tisch für ein angemessenes Gedenken an die Opfer entstand, gab es in den Parteien zwar engagierte Einzelpersonen, aber bis es zum Bundestagsbeschluss für einen Gedenk- und Informationsort kam, war doch viel Überzeugungsarbeit nötig.

Der Gedenkort

■ Am Dienstag (2. 9., 11 Uhr) wird der „Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Morde“ eingeweiht. Kulturstaatsministerin Monika Grütters und der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit sprechen im Foyer der Philharmonie in der Herbert-von-Karajan-Straße 1 Grußworte. Anschließend erinnern Sigrid Falkenstein und Hartmut Traub stellvertretend für die Ermordeten an ihre Angehörigen.

■ Im Rahmen der geheimen „Aktion T4“ – benannt nach der Tiergartenstraße 4 – wurden 1940 und 1941 etwa 70.000 Menschen vergast. Nach Protesten wurde die Aktion eingestellt, Kindermorde und Tötungen durch Giftinjektionen oder Aushungern gingen jedoch weiter. Die Betroffenen – psychisch Erkrankte, Menschen mit Behinderungen, aber auch sogenannte Asoziale und Alkoholkranke – galten als „lebensunwert“. Kriterien für eine Tötung waren fehlende Aussichten auf Heilung und Arbeitsunfähigkeit. NS-Krankenmorde gab es auch in den besetzten Gebieten Polens und der Sowjetunion. Insgesamt wird die Zahl der Toten auf bis zu 300.000 geschätzt.

■ Bereits 1934 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft. Auf dessen Grundlage wurden 400.000 Menschen zwangsweise sterilisiert. Wiedergutmachungsausschüsse der Nachkriegszeit, in denen als Fachleute auch ehemalige NS-Eugeniker saßen, wiesen Forderungen nach Entschädigung zurück. Erst 2007 wurde das Gesetz vom Bundestag als NS-Unrecht geächtet.

Entspricht die jetzige Gestaltung Ihren Wünschen?

Anfangs hatten viele den Wunsch nach einem Dokumentationszentrum. Das war aber unter anderem deshalb nicht durchsetzbar, weil es viel zu wenig Geld gab. Der Bund hat gerade einmal 500.000 Euro beigesteuert, das ist vergleichsweise mickrig. Aber das Ergebnis gefällt mir trotzdem, ich mag die klare, schlichte Gestaltung. Sehr wichtig ist mir auch, dass es nicht nur ein weiteres Denkmal ist, an dem einmal im Jahr Kränze niedergelegt und Sonntagsreden gehalten werden, sondern dass der Ort informiert. Es gibt grundlegende Informationen über die Geschichte der „Euthanasie“, und auch Biografien von Opfern sind dokumentiert. So soll der Ort ihnen Namen und Gesichter und damit Würde zurückgeben.

Was erhoffen Sie sich von dem Ort?

Ich wünsche mir sehr, dass eine Botschaft von ihm ausgeht. Dass die Besucher darüber nachdenken, wie eine Gesellschaft tickt, die Menschen nach ihrem vermeintlichen ökonomischen Wert oder Unwert bemisst. Wie schnell sind wir auch heute noch dabei, Kosten und Nutzen abzuwägen, das beschränkt sich ja nicht nur auf Menschen mit Behinderungen. Letztendlich wünsche ich mir, dass der Erinnerungsort zur Gestaltung einer inklusiven, solidarischen Gesellschaft beiträgt.