: Der Totalverweigerer
RADIKALPROTEST Seit 20 Tagen befindet sich der erwerbslose frühere Manager Ralph Boes im Hungerstreik – gegen Hartz IV und für ein bedingungsloses Grundeinkommen
RALPH BOES
Gut gehe es ihm, sagt Ralph Boes. Obwohl er seit 20 Tagen nur Wasser, Tee und Gemüsebrühe zu sich genommen hat. Er sei „selbst überrascht“, wie er das wegstecke. Das aber habe einen Vorteil: So könne er „voll weiterarbeiten“. Um seine Kritik bekannt zu machen und seinen Hungerstreik.
In dem befindet sich Boes seit dem 1. November: in seiner Wohnung in Wedding, um gegen das Hartz-IV-System zu protestieren. Jeden Tag notiert der 55-Jährige mit der kleinen, ovalen Brille und den angegrauten, gescheitelten Haaren sein Gewicht. 80 Kilo sind es heute, 6 Kilo weniger als zu Beginn seines Fastens.
Boes ist gezwungenermaßen Teil des Systems, gegen das er streikt. Seit 2005, nachdem er seinen Job als Manager einer Seniorenresidenz verlor, bekommt er Arbeitslosengeld – das er gar nicht will, zumindest nicht so. Hartz IV, sagt Boes, sei ein „Zwangssystem“, sei „Lohnsklaverei“. Erst entlasse die Wirtschaft die Menschen, dann würden sie mit Hartz IV „zurückgepresst“ in den Arbeitsmarkt. Egal wohin, egal wie sinnvoll. Dem verweigere er sich nun, sagt Boes, komplett. „Ich will durchspielen, was Hartz IV in seiner letzten Konsequenz bedeutet.“
Boes tritt ein für eine andere Idee: das bedingungslose Grundeinkommen. Das soll schrittweise eingeführt werden, bis zu 1.000 Euro für jeden, weil dann niemand mehr „erpressbar“ sei und nur noch Arbeit mache, die er für sinnvoll halte. Dafür hält Boes Vorträge und reist durch die Republik. 2009 trat der studierte Philosoph und Ergotherapeut mit dieser Idee in Mitte zur Bundestagswahl an, als Einzelkandidat. 1,8 Prozent der Stimmen bekam er bei der Wahl. „Ich trage meinen Teil zum Wohl der Gesellschaft bei“, sagt Boes.
Nur Geld verdient er damit nicht. Das Jobcenter bot ihm deshalb andere Beschäftigungen an, in Callcentern oder bei Leiharbeitsfirmen. Boes lehnte stets ab: Er sei bereits voll beschäftigt. Das Jobcenter kürzte ihm daraufhin die Sozialleistungen auf 10 Prozent: Das sind 37,40 Euro im Monat.
„Entwürdigend“ nennt Boes das. Schon vor Monaten plante er seinen Hungerstreik, schrieb einen Brandbrief an den Bundespräsidenten, die Kanzlerin, sein Jobcenter. Er habe keine Lust mehr auf „Ausweichgeschichten“, werde nicht mehr Einspruch erheben oder klagen gegen die Kürzungen. „Sanktionshungern“, nennt Boes seine Aktion. Er will den Präzedenzfall.
Beim Jobcenter Mitte weiß man von Boes’ Kampagne. „Er hat das lange angekündigt“, sagt Sprecher Andreas Ebeling. „Aber Herr Boes ist ein mündiger Bürger. Was sollen wir da tun? Wir können ihn ja nicht zwangsernähren.“
Genau 82.946-mal wurden in der ersten Hälfte dieses Jahres Sozialhilfeempfängern in Berlin Leistungen gekürzt, weil sie Termine nicht wahrgenommen oder Jobs nicht angenommen haben. Fällt der Satz unter 30 Prozent, gibt es für sie Essens- und Sachgutscheine. Auch die, sagt Boes, nehme er nicht an.
Fünf oder sechs Wochen will der 55-Jährige seinen Hungerstreik durchhalten. Und dann? Dann werde er klagen, sagt Ralph Boes. Hartz IV sei verfassungswidrig, weil es gegen die Menschenwürde verstoße. Wenn möglich, werde er das durchfechten – bis hoch vors Bundesverfassungsgericht.
KONRAD LITSCHKO