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Archiv-Artikel

Kinder sind die wahren Opfer von Zwang und Drill

CHINA Plädoyer für strenge Erziehungsmethoden der Amerikanerin Amy Chua löst Debatte aus

PEKING taz | Hausaufgaben bis in die Nacht, Nachhilfe am Wochenende, strikter Drill und schwere Prüfungen. Chinas Schüler leiden seit Jahrzehnten unter einem strengem Schul- und Erziehungssystem. Diese Qual hat jetzt die Amerikanerin Amy Chua gerechtfertigt. Der Titel: „Schlachtruf einer Tigermutter“.

Das Werk der Autorin, die sich als „chinesische Mutter“ bezeichnet, in Wahrheit als Kind chinesischstämmiger Philippiner in die USA eingewandert ist, wird auch in der Volksrepublik heftig debattiert.

Manche stimmen Amy Chua zu: Strenge Lernmethoden seien notwendig, um Chinas Kinder an die Weltspitze zu bringen. Erst vor Kurzem hatte der internationale Schulvergleich „Pisa“ Aufsehen erregt. Schanghaier Schüler bestanden Prüfungen im Lesen, Rechnen und in den Naturwissenschaften besser als ihre Altersgenossen in anderen Ländern. Doch die ablehnenden Stimmen überwiegen in China: „Zu hart“, „zu grausam“ und „zu altmodisch“ seien die Methoden dieser Tigermutter, lauten die Kommentare in Internetforen.

„Chinesische Eltern wissen, dass übergroße Strenge ihren Kindern nicht guttut“, sagt die Pekinger Erziehungsberaterin Zhao Yuanhong. „Sie haben sie am eigenen Leibe erlebt.

Ein Blick auf die Ratgeberseiten der Zeitungen, in die Erfahrungsbücher chinesischer Väter und Mütter sowie Gespräche mit Lehrern zeigen: Überall wird über die unerträgliche Last geklagt. Schon in der ersten Klasse sind sieben Unterrichtseinheiten am Tag nicht ungewöhnlich.

Dahinter steckt die Furcht vieler Eltern, dass ihr Nachwuchs keinen Platz auf einer der 100 Eliteuniversitäten bekommt. Wegen der Geburtenkontrollen sind die meisten Kinder vor allem in den Städten Chinas Einzelkinder. So konzentriert sich der Ehrgeiz auf die einzige Tochter oder den einzigen Sohn. Die halten den Druck oft nicht aus. Besonders in den Prüfungszeiten sind die Zeitungen voll von Berichten über Jungen und Mädchen, die depressiv werden.

Der Erfolg von Amy Chua, vermutet die Pekingerin Zhao, beruhe „auf einem großen Missverständnis“: Die Welt erkläre sich den Aufstieg Chinas und die Krise Amerikas nur mit dem Erziehungssystem. Falsch, sagt Zhao: „In Wirklichkeit sind die Kinder die Opfer.“ JUTTA LIETSCH