: Neuanfang im Provisorium
OPER Die Berliner Staatsoper eröffnet ihre erste Spielzeit unter Intendant Flimm im ehemaligen Schillertheater mit einem Requiem für Christoph Schlingensief
VON NIKLAUS HABLÜTZEL
Die Berliner Mitte ist beweglich geworden. Am Sonntag, genau 20 Jahre nach dem 3. Oktober 1990, lag sie plötzlich nicht mehr im Osten, wo man sie gewöhnlich vermutet, sondern mitten in Charlottenburg. Denn dort steht das schönste Theater der Stadt, das Schillertheater, 1951 aus den Ruinen aufgebaut, ein Gebäude von vollendeter Eleganz, das bescheiden jedes Pathos vermeidet und eben deswegen ein für alle Zeiten gültiges Symbol eines kulturellen Aufbruchs ist. Ein Raum der Hoffnung auf die Wiedergeburt des menschlichen Geistes aus den Katastrophen des ideologischen Irrsinns.
Aber dieses Kleinod stand leer, nicht nur, weil seit 1993 angeblich kein Geld mehr dafür aufzutreiben war, sondern mehr noch, weil es eben so ganz und gar westlich geprägt war. Nach dem Fall der Mauer war dafür kein Platz mehr, es galt, die historische Mitte der Stadt zurückzugewinnen. Dort liegt die Staatsoper. Auch ein Neubau aus den Ruinen, aber gewiss kein Glücksfall der Baukunst, sondern der verschwitzte Versuch, unter dem Dach eines gewaltsam durchgesetzten Staatssozialismus ausgerechnet den preußischen Spätbarock zu restaurieren. Sie ist seit diesem Sommer wegen Baufälligkeit geschlossen, und seit Sonntag wissen wir, dass es eine der klügsten Entscheidungen der Berliner Landesregierung war, für die Zeit des Umbaus das vergessene Schillertheater wiederzueröffnen. Die neue Adresse ist kein Provisorium, sondern ein Neuanfang – für die Staatsoper auf jeden Fall, aber vielleicht auch für das Schillertheater.
Das ist zunächst ein Verdienst von Jürgen Flimm, dem neuen Intendanten. Daniel Barenboim hatte in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass das musikalische Niveau erhalten blieb, Spielpläne und Inszenierungen versanken jedoch in planloser Beliebigkeit. Mit einem Auftrag an Christoph Schlingensief wollte Flimm ein Zeichen setzen. Das ist ihm auf paradox tragische, kongeniale Weise gelungen. Zwei Tage vor Probenbeginn starb Schlingensief, am Sonntag war nun zum ersten Mal zu hören und zu sehen, was von seinem letzten Werk, dem Musiktheaterstück „Metanoia“, aufführbar vorliegt.
Fertig gestellt ist nur die Musik des Komponisten Jens Joneleit. Fünf Gesangssolisten, ein Chor und die Staatskapelle haben sie unter der geradezu bekennerisch engagierten Leitung von Daniel Barenboim zum Klingen gebracht: Eine sehr hörenswerte, einfallsreiche, mal effektvoll theatralisch auftretende, oft aber auch lyrisch zurückgenommene, innehaltende Komposition, die sich überaus sicher und selbstbewusst der Mittel der Moderne, unter Einschluss der Elektronik, bedient. Vielleicht wäre auf dieser Grundlage wirklich so etwas wie eine große Oper entstanden, wenn sich Schlingensief um den Rest hätte kümmern können, der dazu nötig wäre.
So aber läuft sich diese Musik an einem Text von René Pollesch tot, der sich verzweifelt bemüht, Nietzsches naive Jugendphilosophie des „Apollinischen“ und „Dionysischen“ mit Alltagsphrasen aufzumöbeln. Ein statisch aufgereihter, in Ganzkörpertrikots verpackter Chor und ziellos herumirrende Solisten tragen ihn vor, dazu sind Fragmente von Kulissen und kaum verständliche Videofilmchen im Hintergrund zu sehen: Mehr als Spielmaterial für die szenischen Kapriolen eines Christoph Schlingensief ist das nicht, und in einer schriftlichen Erklärung entschuldigt sich das Ensemble dafür, dass mehr zu zeigen nicht möglich war. Das ist glaubwürdig und verdient Respekt, denn gerade dieses offen zur Schau gestellte Misslingen ist womöglich das schönste Requiem für einen Künstler, dessen Werk nie von seiner (körperlichen) Person zu trennen war.
Ein Todesfall gleich zu Beginn einer neuen Ära ist gemeinhin kein gutes Zeichen. Aber für das neue Schillertheater scheint das nicht zu gelten. Eine verhalten fröhliche Stimmung war in das wundervolle, lichtdurchflutete Foyer eingezogen, maßvoller Applaus dankte am Ende für die Musik, die nach so viel mehr klang, als auf der Bühne zu sehen war. Es wird gut hier, der Westen ist wieder aufgewacht, wir machen dort weiter, wo wir hier mal waren: experimentell, wild, und obszön, wenn es denn der Wahrheitsfindung dient.
Gleich am Montag öffnete die Werkstatt mit der Inszenierung zweier Monologe für Sopran und Instrumente durch Michael von Zurmühlen, der in Berlin bisher sowohl für die Neuköllner Oper als auch für die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz gearbeitet hat: „Miss Donnithorne’s Maggot“ von Peter Maxwell Davies (1969) und „Infinito nero“ von Salvatore Sciarrino (1998). Beide handeln vom Wahnsinn einer in ihrer Welt eingeschlossenen Frau – einer Bürgerin im 19. Jahrhundert und einer Nonne aus dem 17. Jahrhundert. Die erste, Miss Donnithorne, ist gar nicht zu sehen. Zurmühlen hat sie in Pappwände eingeschlossen, ihre körperlichen Verrichtungen, die sie hochexpressiv singend an sich ausführt, werden nur durch Videokameras nach außen übertragen: eine hübsche Zuspitzung des Videowahns im Regietheater. Hanna Dora Sturludottir bewältigt die Singklausur großartig, danach muss sich Sarah Maria Sun als Nonne mit Klebestreifen auf ein Brett binden lassen, das sie dann senkrecht hängend als Gekreuzigte dem Publikum und zwei Statisten mit Gummipenissen darbietet. Sciarrinis Musik ist etwas einfacher gestrickt als Maxwell Davies’ weit ausufernde Monodie, aber immer noch eine Herausforderung in dieser Schmerzenslage. Nicht ganz neu zwar und ein wenig dick aufgetragen – aber in der Staatsoper zu Berlin! Man reibt sich die Augen.
■ Bis 16. Oktober im Schillertheater