: No Coffee and Cigarettes
TRAUMTÄNZER In „Oh Boy“ lässt Jan Ole Gerster in seinem Debutfilm zu einem nostalgischen Swing-Soundtrack Tom Schilling 24 Stunden lang in schwarz-weiß durch Berlin flanieren.
VON WILFRIED HIPPEN
3 Euro 40 für einen normalen Kaffee? Dies ist nur einer der ersten, vergleichsweise harmlosen Schläge, die Niko Fischer an diesem Tag einstecken muss. Erst zum nächsten Morgengrauen in der letzten Einstellung des Films wird er einen Espresso trinken können, denn seine Scheitern an den Kaffeetassen Berlins ist einer der schön gesetzten running-gags in dieser so inspiriert und raffiniert inszenierten Komödie. Man achte etwa darauf, wie die Cafébedienung bei ihrer schockierenden Preisansage plötzlich zu schwäbeln anfängt. Da überkommt jedem richtigen Berliner das Grauen der Gentrifizierung.
Im Grunde taumelt der nicht mehr ganz junge Mann von einer tragikomischen Situation in die nächste und immer kriegt er einen auf den Deckel. So wird sein Gespräch mit einem Psychologen, der einschätzen soll, ob er mental gesund genug ist, um seinen Führerschein wiederzubekommen, zu einem kafkaesken Katz-und-Maus-Spiel, das dem Wort Idiotentest einen ganz neue Bedeutung verleiht. Sein reicher Vater (Ulrich Noethen) demütigt ihn vor seinem devoten Taschenträger, der etwa im gleichen Alter wie der Sohn ist und eine Ahnung davon aufkommen lässt, was aus dem Jungen hätte werden sollen, wenn er nicht als solch ein Traumtänzer entpuppt hätte. Stattdessen war der Jurastudent zwei Jahre lang nicht mehr an der Uni gewesen und hat „nachgedacht“. Kein Wunder, dass der Vater ihm nun das Konto gesperrt hat. Doch als ein melancholischer Flaneur ist er auch ein Stehaufmännchen, das so schön scheitern kann, dass man ihm immer weiter gerne dabei zusehen möchte. Tom Schilling spielt ihn als einen sanftmütigen Romantiker, der wie der Titel schon sagt eher eine Junge als ein Mann ist, und mit zugleich unruhigen und erstaunten Augen die alltäglichen Absurditäten des Berlins von heute aufnimmt. So trifft er eine Reihe von skurrilen Figuren wie den Nachbarn, der nicht alleine sein kann, sich förmlich in seine Wohnung drängt und ihn mit seinen Frikadellen fast körperlich angreift.
Jan Ole Gerster hat ein Talent dafür, Situationen zu erfinden, in denen er sein Gefühl dafür, was Berlin heute ausmacht, ins Komische drehen kann. So kann er sich etwa sehr schön darüber lustig machen, dass Hollywood in der Hauptstadt reihenweise Nazifilme dreht und viele Schauspieler gar nicht mehr aus den Uniformen herauszukommen scheinen. Auch dafür, dass man nachts auf Berliner Straßen immer damit rechnen muss, zusammengeschlagen zu werden, findet er eine Szene, die so schön gebaut und gespielt ist, dass man zugleich um den armen Held bangen und über ihn lachen kann. In einer nächtlichen Kneipenszene erzählt Michael Gwisdek als alter jüdischer Mann Niko seine Kindheitserinnerungen an die Reichspogromnacht und in dieser pointiert und einfühlsam inszenierten Szene wird klar, dass die Vergangenheit in der so modernen Hauptstadt immer präsent ist. Diesen genauen Blick auf die Realitäten hat Gerster bei Wolfgang Becker gelernt, der sein Lehrer an der Berliner Filmhochschule war.
Erstaunlich ist auch, wie einheitlich „Oh Boy“ stilistisch wirkt, und dies obwohl Gerster hier so hemmungslos seine Vorbilder ehrt, dass der Film auch eine Ansammlung von Zitaten ist. So beschreibt ein Freund die Stadt mit einem Satz aus Scorseses „Taxi Driver“ und zwei Fahrscheinkontrolleure haben die „Persönlichkeiten“ der beiden Roboter aus „Star Wars“. Die Großstadtbilder in schönstem schwarz-weiß und der nostalgischen Jazzmusik erinnern an Woody Allens „Manhattan“ und die Nonchalance hat er aus der französischen Nouvelle Vague übernommen. Godard, vor allem aber Truffaut werden sogar direkt zitiert.
Mit seiner ähnlichen Episodenform und dem Helden, der am liebsten gar nichts tun würde, ist die wichtigste Inspiration wohl May Spils „Zur Sache Schätzchen“ von 1968. Und wie dieser Film damals ist auch „Oh Boy“ ein Unikum: Eine stilistisch eigenwillige Komödie, in der entspannt, witzig und sehr persönlich ein Lebensgefühl vermittelt wird. Vor einigen Wochen räumte „Oh Boy“ schon alle Hauptpreise beim Oldenburger Filmfest ab. Er ist zumindest der unterhaltsamste deutsche Film dieses Jahres.