: Gedankenschmuggel
ELSÄSSER GESCHICHTEN Der Roman „Grenzvagabund“ von Martin Graff ist entschieden antinational
Martin Graff ist gelernter Theologe und Romanist, Filmemacher, Schriftsteller, Kabarettist und mehrsprachiger Elsässer. Sein neuestes Buch trägt den Titel „Grenzvagabund“ und tritt als Roman auf, ist aber viel mehr ein Thriller, ein Stück Autobiografie, ein spannendes Geschichtsbuch und ein sprachliches Kabinettstück. Der Autor wurde am 22. Juni 1944 im Elsass geboren und wuchs vaterlos auf, weil dieser – der Familiensage zufolge – im Februar 1945 in Polen gefallen war. Eines Tages entdeckte der Sohn in einem Koffer Fotos, Briefe und andere Schriftstücke des Vaters. Als über Sechzigjähriger begeben sich der Sohn und die Romanfigur Martin auf die Suche nach den Spuren des Vaters. Reale Suche und Fiktion vermischen sich fortan.
In Schlesien, wo der Vater gefallen sein soll, merkt der Sohn, dass dieser Landstrich eine ähnlich verworrene Geschichte hat wie das Elsass. Die Suche endet nicht in identitätsseliger Selbstbespiegelung, sondern wird zur Auseinandersetzung mit der fürchterlichen „Nationalismusmühle“ (Graff), die die Schicksale der Menschen im 19. und 20. Jahrhundert buchstäblich zermahlen hat.
In Polen erfährt die Romanfigur Martin, dass der Vater nicht gestorben ist, sondern eine Partisanin rettete und zu den Partisanen desertierte. Die gerettete Partisanin wird seine Frau, ihr gemeinsames Kind Natascha ist Martins Halbschwester. Der Vater bleibt in Polen und arbeitet als Trainer der polnischen Langlaufnationalmannschaft. Bei den Winterspielen von 1968 in Grenoble setzt er sich ab und wird von der CIA in die USA gebracht, wo er in Aspen (Colorado) Skilehrer wird. Obwohl der fiktive Martin inzwischen seine Halbschwester Natascha kennengelernt hat, vermeidet der Vater ein Zusammentreffen mit ihm.
Ebenso unterhaltsam wie lehrreich in die Handlung eingeflochten sind die nationale und die europäische Geschichte: Die Elsässer wurden 1870 zu Deutschen gemacht, nach 1918 und bis 1940 zu Franzosen, dann wieder zu Deutschen und nach 1945 erneut zu Franzosen. Die Großväter und der Vater trugen die Uniformen beider Armeen. So viel zur unausrottbaren, besonders vom alten Martin Walser verbreiteten Legende, man werde als „Deutscher“ geboren. Zu derlei wird man gemacht, wie der hellwache Komponist Erik Satie (1866–1925) wusste: „Ich finde, dass alle Franzosen, die auf französischem Gebiet geboren sind, von französischen Eltern oder solchen, die diesen Anschein erwecken, ein Anrecht auf eine Anstellung bei der Pariser Post haben sollten.“ Mit der Nation verhält es sich wie mit dem Posthorn: Wer ihrem Ruf folgt, gehört dazu. Man darf weghören bei dieser bluttriefenden Blasmusik.
Gegen Verbiesterung
Die elsässischen Soldaten in der Wehrmacht verstanden sich als „Zwangsrekrutierte“, die meisten beherrschten aber „den Uniformwechsel“ recht gut. Martins Vater zog noch Ende 1944 in Richtung Osten und desertierte nicht nach Südfrankreich, obwohl die Alliierten 1943 in Italien und am 6. Juni 1944 in der Normandie gelandet waren.
Ähnlich opportunistisch ergaben sich die Elsässer der nationalen Zurichtung durch die jeweiligen Sieger. Die elsässische Sprache sowie die Dreisprachigkeit verschwanden nach 1945 – auch weil die Elsässer selbst sich mit der Sprachenteignung einfach abfanden. Der Dichter René Schickele, der Arzt Albert Schweitzer und der deutsche Widerstandskämpfer Julius Leber sind „in ihrem eigenen Land quasi unbekannt“.
Martin Graff ist kein elsässischer Folklorist, er ist ein weltläufiger „Gedankenschmuggler“, der es wunderbar versteht, die nationale Verbiesterung vorzuführen, die um sich greift und die Hirne vernebelt. Graffs Buch gehört zur Pflichtlektüre für europäische Citoyennes und Citoyens. RUDOLF WALTHER
■ Martin Graff: „Grenzvagabund“. Verlag André Thiele, Mainz 2010, 214 Seiten, 16,90 Euro