: Geistige Entschleunigung, gesteigerte Wahrnehmung
KONZERT Klangexperimente und schön temperiertes Rauschen mit Silvia Kastel, Tarcar und Shampoo Boy im Neuköllner NK
„I’m falling and falling and falling.“ Und irgendwann wird es wahr. Schon nach wenigen Minuten fühlt sich die Musik von Silvia Kastel an, als würde man fallen. Und schweben. Und zwar endlos – in einem dunklen, aber auch vertrauten Raum.
Während die Italienerin diese Worte ins Mikrofon spricht, dreht sie genussvoll an einem ihrer Effektgeräte und schickt ihre von basslastigen Beats unterlegte Stimme ins Weltall, bis sie – verformt und verzerrt – zurückkehrt und so aus den bis zum Anschlag aufgedrehten Boxen in der Neuköllner Off-Location NK tönt.
Dass der quadratische Raum in einer Fabriketage an diesem Abend kaum beleuchtet ist, hängt mit dem Gastgeber zusammen, dem britischen Label Blackest Ever Black, das sich vorwiegend der düsteren Seite elektronischer Musik zwischen Industrial, Noise und Dub verschrieben hat. Dass an einem gewöhnlichen Donnerstag fast 200 interessierte Menschen kommen, die sowohl die abstrakte Schönheit von unterkühltem weißem Rauschen und herausfordernden Klangexperimenten zu schätzen wissen, wohl auch. Denn bereits nach wenigen Jahren hat das 2008 gegründete Label Kultstatus erreicht.
Das liegt nicht nur an der so schlichten wie unprätentiösen, an den Postpunk der 80er und 90er Jahre anknüpfenden Schwarz-Weiß-Ästhetik bei den Veröffentlichungen des Labels, sondern auch an der Vielfalt der Künstler. So hat das Label sowohl vergessene Helden wie etwa den Pariser Jazztrompeter Jac Berrocal als auch Newcomer unter Vertrag – etwa das in Melbourne lebende Duo Tarcar, das an diesem Abend seine entrückt-moderne Version von entschleunigtem Postpunk, Dub und Industrial erstmals auf europäischem Boden vorstellt. Die Musik des mit Bass, Gitarre und diversen Samplern performenden Duos, deren verknappte Gesangsparts stets in endlosen Halleffekten verschwinden, erzählt von den Versprechungen der Nacht und ihren verlockenden Möglichkeiten, sich selbst in ihr zu verlieren, um in einem Zustand ohne Zukunft und Vergangenheit ein totales Jetzt zu erleben.
Doch niemand beherrscht das an diesem Abend wohl so gut wie das als Headliner angekündigte Wiener Trio Shampoo Boy, das mit seinen dickflüssigen Drones den Fluss der Zeit aus seinem Kontinuum reißt. „Crack“, also „Riss“, ist der Titel des aktuellen Albums von Shampoo Boy. Er passt perfekt zur Musik. Wie eine lange Reise durch eine surreale unterirdische Welt klingt der Eröffnungstrack „Spalt“, über Abgründe und Schluchten hinweg, bis man schließlich angekommen ist an der Klangquelle, in der dann alles in einem so bedrohlichen wie schönen Ozean aus stehenden Tönen und Rauschen verschwindet.
„Es war ja ganz gut, aber viel zu laut“, sagt ein Gast zum Schluss und erntet die Zustimmung einiger anderer herumstehender Besucher. Doch lauter als die Stille im drei Stockwerke tiefer gelegenen und von einem diffusen Licht bestrahlten Hinterhof kann es gar nicht gewesen sein. Am Ende bleibt ein angenehmes Gefühl der geistigen und körperlichen Entschleunigung sowie eine maximal gesteigerte Wahrnehmung. Draußen ist es jedenfalls schwärzer als zuvor. Und der Mond scheint in Demut, als hätte er gelauscht. PHILIPP RHENSIUS