: Der Mann auf dem Schulheft
BÜRGERKRIEG Über 30.000 Tote hat der Syrienkonflikt bereits gefordert. Ein Sammelband befasst sich mit den Hintergründen und bedeutenden Seitenaspekten dieses komplexen Konflikts
Täglich berichten die Medien von neuen Kämpfen, neuen Massakern, neuen Friedensinitiativen in Syrien. Die Islamwissenschaftlerin Larissa Bender, Herausgeberin von „Syrien – Der schwierige Weg in die Freiheit“, lässt nicht nur deutsche Kenner des Landes zu Wort kommen. Die meisten der 19 Verfasser sind selbst Aktivisten der syrischen Protestbewegung; bekannte Namen wie der des oppositionellen Schriftstellers Yassin Al Haj Saleh finden sich in der Autorenliste.
Die Vertrautheit der Autoren mit dem Land ermöglicht Einblicke in sonst verschlossene Bereiche des syrischen Alltags, sowohl vor als auch nach Beginn des Aufstands. So blickt etwa die Autorin Rosa Yassin Hassan auf ihre Kindheit unter dem langjährigen Präsidenten Hafiz al-Assad zurück. Die Vorderseiten ihrer Schulhefte, erinnert sie sich, zierte ein Foto dieses Mannes, dessen Namen sie sich nicht auszusprechen traute. Aus Ehrfurcht, wie sie sagt, war sie bemüht, das Foto nicht zu zerkratzen oder gar mit Tinte zu beflecken.
Ähnlich detailreich und lebensnah schildert der Journalist Amer Mattar, wie ihn die Sicherheitskräfte des heutigen Präsidenten Baschar al-Assad nach Ausbruch der Revolution wegen kritischer Artikel in einen Kerker sperrten. An der Zellenwand entdeckte er Namen, die Inhaftierte vor ihm, teils in den 80er Jahren, hinterlassen hatten. Mattar schloss sich seinen Vorgängern an, kritzelte auch seinen darunter. „Sollte ich sterben“, schreibt er in seinem Beitrag, „würde vielleicht einer derjenigen, die nach mir kämen, meiner Familie von meinem Verbleib erzählen.“
Erzählungen wie diese machen das Buch zu einer bereichernden Lektüre. Doch ist die Verbundenheit der Autoren mit der Sache der Revolution Stärke und Schwäche des Buches zugleich. Mehr Abstand zum Aufstand und weniger persönliche Erfahrungsberichte hätten Raum geschaffen für grundlegende Hintergrundinformation und mehr analytische Tiefe. Auf einen einleitenden historischen Teil verzichtet Bender. Andere wichtige Aspekte kommen zu kurz. So sprechen die Autoren immer wieder von der Baath-Partei oder der alawitischen Religionsgemeinschaft. Die Informationen zu beiden Themen kommen auf den 200 Seiten des Sammelbands jedoch kaum über das hinaus, was die Tagespresse an Hintergrund dazu liefert. Selbst ein eigenes Kapitel zu den Alawiten verliert sich in Thesen zur Politik der Assads, ohne dem Leser das Alawitentum näherzubringen.
Auch hätte man der Herausgeberin mehr Mut zur Kontroverse gewünscht. Oft muss sich der Leser fragen, ob er mit der Realität oder den Idealen des Autors konfrontiert wird – etwa wenn es heißt, die Revolution habe sich auch nach über einem Jahr „nicht von einem friedlichen in einen bewaffneten Aufstand verwandelt“. Kritik an der oppositionellen Freien Syrischen Armee bleibt aus, Berichte über eine islamistische Unterwanderung der Opposition werden als nebensächlich abgetan. Auch den Konflikten in den Reihen der Opposition räumen die Autoren kaum Raum ein.
Dennoch lohnt die Lektüre des Bandes, denn vor allem eins führen die Autoren dem Leser vor Augen: dass es Menschen sind, die tagtäglich den Widerstand aufrecht erhalten. Jeder für sich hat eine eigene Geschichte von der Revolution zu erzählen. Gemein ist ihnen, das zeigen die Beiträge deutlich, der anhaltende Elan für den Aufstand und die Hoffnung auf ein freies Syrien, die sie auch nach eineinhalb verlustreichen Jahren noch nicht aufgegeben haben.
JANNIS HAGMANN
■ Larissa Bender: „Syrien. Der schwierige Weg in die Freiheit“. Dietz Verlag, Bonn 2012, 201 Seiten, 14,90 Euro