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Archiv-Artikel

Mut zur Unschärfe

HISTORIE Ab heute gibt es in Berlin einen Kracauerplatz. Anlass, Siegfried Kracauers nüchternen Blick auf die Geschichte zu würdigen

In der Geschichte der Geschichtsschreibung, schreibt Siegfried Kracauer an einer Stelle, habe es seit Thukydides nichts Neues mehr gegeben. Eine ungewöhnlich provokante Einlassung, gilt Thukydides’ vor 2.500 Jahren verfasstes Werk „Der Peloponnesische Krieg“ doch als offizieller Urknall einer Zunft. Allzu weit hergeholt ist Kracauers Behauptung jedoch gar nicht. Denn spätestens im 19. Jahrhundert hatte sich die Historiografie heillos in den eigenen Ansprüchen, Methoden und Ideologien verheddert.

Eine Provokation war es allerdings, dass sich ausgerechnet der Filmtheoretiker, Soziologe und Feuilletonist Kracauer mit seinem 1966 erschienenen und jetzt bei Suhrkamp vorzüglich neu aufgelegten Fragment „Geschichte – Vor den letzten Dingen“ anschickte, den Graben zwischen Philosophen und Historikern klärend und versöhnend aufzufüllen. Grob gesprochen suchten da seit Hegel die Geschichtsphilosophen nach einer umfassenden Systematik im deutbaren Geschehen, seit Droysen die Geschichtstheoretiker ihr Heil im Studium der Quellen. Hier der Makrohistoriker mit seinem Faible zu panoramischen Großaufnahmen, dort der Mikrohistoriker, der sich meist zwecks Widerlegung derselben ins „Unterholz der Geschichte“ begibt, aus dem das große Ganze sich angeblich konstituiert.

Dass sich dieses ideengeschichtliche Schisma nach den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs noch verschärfte, mag für Kracauer, der vor eben diesen Ereignissen nach New York geflohen und, anders als etwa sein Freund Adorno, im Exil geblieben war, Anlass gewesen sein, sich auf seine alten Tage auch dieses Problems einmal anzunehmen. Mit Gewinn. Einführend schildert Kracauer, wie ihm selbst erst spät und „blitzartig“ die „vielen Parallelen“ zwischen der von ihm schon in den 1920er-Jahren erschöpfend behandelten „Kamera-Realität“ und der „historischen Realität“ entdeckte: „War ich denn bislang mit Blindheit geschlagen?“

Zur Zerschlagung des gordischen Knotens bringt Kracauer einen Begriff in Anschlag, den er wohl auch aus dem Kino kannte: die Unschärfe. Makro- und Mikrogeschichte sollten sich nicht gegenseitig ausschließen, weder die Philosophen noch die Historiker genössen einen exklusiven Zugang zur „Geschichtlichkeit“. Zu erreichen wäre, so Kracauer, eine Schnittmenge aus beiden Schulen, eine „Genauigkeit im Approximativen“, was eben nur unter Duldung gewisser Unschärfen möglich sei. Nun ist „Genauigkeit im Ungefähren“ ein kniffliges Dilemma, zu dessen Auflösung Kracauer zwei völlig fachfremde, weil literarische Kronzeugen auffährt: Leo Tolstoi und sein Roman „Krieg und Frieden“, in dem sich „historische Wirklichkeit als ein endloses Kontinuum mikroskopisch kleiner Vorfälle“, mithin also als Mosaik präsentiert. Und Marcel Proust, der in seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“ ebenfalls jede klassische Chronologie unterwandert, um sie gegen eine kaleidoskopische Sicht der Dinge einzutauschen.

Pure Daten, so Kracauer, seien nur „leere Gefäße“ und daher nicht hilfreich beim Versuch, historische Ereignisse in ihrer Komplexität und Fülle zu begreifen. Ebenso kritisch geht er mit Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ und allen anderen Versuchen ins Gericht, von „Zeiträumen“ zu erzählen. So sei es üblich, etwa „die Renaissance“ als den Zeitraum zu schildern, in dem sich der Mensch erstmals als Individuum zu begreifen beginne. Das trifft zu und ist zugleich nicht richtig. Oft werde unterschlagen, dass sich in der Renaissance ebenso mittelalterliches Denken fortsetzte wie modernes Denken ankündige, von einem homogenen Zeitraum also keine Rede sein könne. Anders als die Geschichtsforschung habe die Kunstgeschichte diesen Tanz aus Brüchen, Kontinuitäten, Überschneidungen, Gleichzeitigkeiten und Blasen längst in ihre Betrachtungen einbezogen.

So lautet denn auch Kracauers Vorschlag zur Güte, man möge zwecks Annäherung an die Wahrheit aus den scheinbar so unversöhnlichen Gegensätzen eine behutsame Synthese bilden. Schließlich ist laut Erasmus von Rotterdam nur „der Mittelweg der Pfad nach Utopia – der Weg des Humanen“. ARNO FRANK

Siegfried Kracauer: „Geschichte – Vor den letzten Dingen“. Werke in neun Bänden (Bd. 4). Suhrkamp, Berlin 2009. 654 Seiten, 78 €