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Archiv-Artikel

„Europa ist nicht vorbereitet“

VERBRECHENSBEKÄMPFUNG Der bekannte Mafia-Ermittler Nicola Gratteri im Gespräch über träge Politiker und wendige Mafiosi

Nicola Gratteri

geboren 1958 in Gerace/Kalabrien, ist Oberstaatsanwalt in Reggio di Calabria. Er studierte Jura in Catania. Er ist einer der profiliertesten Mafia-Ermittler Italiens und vor allem mit der ’Ndrangheta beschäftigt. In Deutschland wurde er bekannt als erfolgreicher Koordinator der Ermittlung nach dem Massaker von Duisburg. Seit April 1989 lebt er unter Personenschutz. Am 21. Juni 2005 entdeckt die italienische Polizei im kalabrischen Gioia Tauro ein Waffenarsenal, das nach Hinweisen für ein Attentat auf Gratteri angelegt wurde.

INTERVIEW AMBROS WAIBEL

taz: Herr Gratteri, ist die Mafia im Wesentlichen ein süditalienisches Problem?

Nicola Gratteri: Nein, das zu glauben, ist Ignoranz. Man unterschätzt das Problem. Denn das Problem Mafia betrifft die gesamte westliche Welt. Die Mafien sind globalisiert, wie es die Konsumgewohnheiten oder Geschmäcker sind. Die Camorra, die Cosa Nostra, die Sacra Corona Unita und die ’Ndrangheta sind wie multinationale Konzerne, die ja auch wollen, dass ihre Produkte überall gekauft werden. Sie besetzen alle Plätze, die Ökonomie und Gesellschaft ihnen einräumen.

Und das betrifft auch Europa?

Das betrifft vor allem Europa, weil Europa überhaupt nicht vorbereitet ist, mit einer geeigneten Gesetzgebung die Mafia zu attackieren.

Obwohl geschätzte 42 Milliarden Euro Jahresumsatz allein der ’Ndrangheta ja nun keine Kleinigkeit sind.

Überhaupt nicht. Aber die Politik bewegt sich immer erst, wenn das Problem auf Seite 1 der wichtigen Zeitungen rückt.

Wie bei den Morden von Duisburg?

Immer wenn es etwas Sichtbares gibt, was die Gesellschaft beunruhigt. Aber wenn ich Geld wasche oder investiere, präsentiere ich mich als Unternehmer, ich mache nichts schmutzig und ich stinke nicht, ich mache keinen Lärm. Ich bringe frisches Geld, kaufe eine Pizzeria, ein Hotel – auch wenn das Geld aus dem Kokainhandel kommt. Aber das ist kein Problem für die Politik. Die greift nur ein, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden lässt. Denn ihr geht es um die Zustimmung der Öffentlichkeit.

Wie ist es denn um diese Öffentlichkeit hier in Kalabrien bestellt, im Heimatland der ’Ndrangheta, mit der sie sich als ermittelnder Staatsanwalt vor allem beschäftigen?

Es gibt hier natürlich eine große Aufmerksamkeit. Aber Kalabrien spielt in der italienischen Politik nur eine marginale Rolle. Wir sind zwei Millionen, ein Viertel von Rom oder der Metropolregion Mailand. Dementsprechend gering ist der Einfluss unserer Politiker – soweit sie nicht ohnehin für die ’Ndrangheta arbeiten. Es gibt nicht viele ehrliche Politiker.

Und die Kalabresen selbst?

Die Kalabresen sind grundlegend desillusioniert. Es ist ein Volk, das immer nur benutzt wurde. Man hat von politischer Seite ganz bewusst uns immer in Abhängigkeit gelassen. Eine Politik auf der Basis der Zuwendungen, nicht der Freiheit. Da ist immer die Rede von großen Projekten wie der Brücke nach Sizilien, von Revolutionen in der öffentlichen Verwaltung, der Infrastruktur und so weiter. Man schafft aber keine realen Arbeitsplätze, keine Industrie, sondern sorgt für Scheinbeschäftigung, etwa in der Forstverwaltung, die dann wieder Angehörigen der Mafia als Tarnung dienen für ihre eigentlichen Geschäfte. Die sind dann als Arbeiter zur Waldpflege und Brandbekämpfung gemeldet, in Wirklichkeit verkaufen sie Kokain in Deutschland. Was diese Politik angeht, ist es eher schlechter geworden als besser.

Wie ändert man das – von oben oder von unten?

Von beiden Seiten. Auch wenn der beste italienische Manager, Sergio Marchionne von Fiat, nach Kalabrien käme, könnte er nichts machen. Die Politik braucht ein starkes Justizsystem, sie kann nur in einem sicheren Umfeld erfolgreich agieren. Auf der zivilgesellschaftlichen Seite gibt es viele Initiativen. Ideen, die oft nur so lange leben, wie das Geld fließt, das ein Politiker gibt, um sich zu profilieren – bis er wieder abgewählt wird. Das Problem ist auch, dass es so schwierig ist, mit den Entwicklungen der ’Ndrangheta Schritt zu halten. Denn die bewegt sich so schnell wie die Gesellschaft selbst, sie ist innerhalb der Gesellschaft und da muss sie auch sein. Sie ist nicht der Antistaat. Sie kann sich nicht erlauben, draußen zu stehen.

Welche Rolle spielt die Staatsanwaltschaft?

Theoretisch wendet sie schlicht die Gesetze an. Aber wir beklagen uns, weil wir kein starkes System zur Verfügung haben. Es gibt auch bei uns Korruption, aber im Vergleich sind wir ziemlich sauber. Die meisten tun, was sie können, aber das System ist schlecht.

Dabei gibt es in Italien die strengsten Antimafiagesetze der Welt.

Stimmt, aber wir sind auch das einzige Land mit vier Mafien. Wir sind Marktführer beim Import von Kokain in Europa. Die Mafia ist in allen Wirtschaftsbereichen tätig. Es reicht einfach nicht.

Was wären denn ernst zu nehmende Maßnahmen?

Wenn in einem Prozess festgestellt wird, dass ein Unternehmer seinen Giftmüll mithilfe der Mafia illegal entsorgt und damit das Leben tausender Menschen gefährdet hat, soll man ihn zu dreißig Jahren verurteilen können. In einem isolierten Gefängnis auf einer Insel, wie wir sie in Italien leider nicht mehr haben. Danach würden die Unternehmer aus dem Norden, die ihr Gift im Süden billig entsorgen lassen, sich das dreimal überlegen. In unserer Welt bekommt er eine Geldstrafe von 2 Millionen und kauft sich deswegen eine kleinere Yacht. Man müsste ganz anders an die Dinge herangehn. Es darf sich einfach nicht mehr lohnen, Mafioso zu sein.

Das Problem ist, dass die Mafiabosse verurteilt werden, aber nicht die Unternehmer?

Auch für die Mafiabosse sind die Strafen zu gering. Dank der generösen Strafreduzierung gibt es eine Menge Möglichkeiten, hohe Strafen im Lauf der Zeit zu drücken. Wenn einer die Tat eingesteht, bekommt er von Anfang an Strafnachlass; wenn er sich gut führt, werden ihm jedes Jahr drei Monate erlassen. Dann kommt der offene Vollzug und er geht offiziell arbeiten – was er in seinem ganzen Leben nicht gemacht hat. In Wahrheit heuert er bei einem Strohmann der Mafia an.

La Mafia

■  Camorra: Kerngebiet ist Neapel und Kampanien; organisiert in 236 Clans, tätig sind 7.200 Angehörige und 82.000 im Umfeld; der Jahresumsatz beträgt 47 Milliarden Euro. Hauptgeschäftsgebiete sind Waffenhandel, illegale Müllentsorgung, Drogen, Geldwäsche sowie Obst- und Gemüsehandel.

■  ’Ndrangheta: Kerngebiet ist Kalabrien; organisiert in 160 Clans, tätig sind 6.000 Angehörige und 72.000 im Umfeld; der Jahresumsatz beträgt 42 Milliarden Euro; Hauptgeschäftsgebiete sind Drogen (vor allem Kokain) und Subventionsbetrug (Straßenbau, Gesundheitswesen).

■  Cosa Nostra: Kerngebiet ist Sizilien; organisiert in 186 Clans, tätig sind 5.400 Angehörige und 65.000 im Umfeld; der Jahresumsatz beträgt 13 Milliarden Euro; Hauptgeschäftsgebiete sind Drogen und Geldwäsche.

■  Sacra Corona Unita: Kerngebiet ist Apulien; organisiert in 47 Clans, tätig sind 1.600 Mitglieder; der Jahresumsatz beträgt 878 Millionen Euro; Hauptgeschäftsgebiete sind Menschenhandel, Prostitution und Waffenhandel. Alle Angaben zu Umsätzen und Mitgliederzahlen sind Schätzungen (aw)

Ändert sich was daran unter der gegenwärtigen Regierung?

Dieses Jahr wird entscheidend sein. Die Regierung plant drei Maßnahmen, vor allem den „verkürzten Prozess“. Wenn der durchgeht, dann ist das das Ende der Anti-Mafia, also der systematischen Mafiabekämpfung. Aber der Kampf findet mitten in der Regierungskoalition von Berlusconi statt.

Gibt es auch was Gutes?

Eine sehr ernsthafte Sache ist das Gesetz, das es erlaubt, Mafiagüter einfacher und schneller zu beschlagnahmen, sowie die Eindämmung von Deals zwischen Anwalt und Gericht. Der Rest ist für die Medien, ohne Substanz. Die Tatsache etwa, dass die neue Nationale Agentur zur Verwaltung beschlagnahmter Mafiagüter ihren Sitz in Reggio Calabria hat, ändert per se gar nichts, außer dass in der Stadt ein paar Kaffee und ein paar Mittagessen mehr verkauft werden. Und mal eben 200 Polizisten einzustellen, ist auch sinnlos, wenn tausende Stellen gar nicht mehr ausgeschrieben werden.

Und international? Hat das Massaker von Duisburg etwas geändert?

Es hat dazu geführt, dass sich die deutsche und die italienische Polizei etwas mehr für die Aktivitäten der ’Ndrangheta in Deutschland interessieren mussten. Aber konkret hat Deutschland nichts gemacht. Wenn unter den sechs Toten auch zwei Deutsche gewesen wären, hätten sich der Gesetzgeber und das Justizsystem vielleicht bewegt. Ich fahre seit zehn Jahren nach Deutschland, ich kenne mich inzwischen aus. Man hat es einfach nicht als deutsches Problem gesehen. Aber in Deutschland gibt es einen Organisationsgrad der ’Ndrangheta genau wie in Belgien, wie in der Schweiz oder in Spanien. Genau wie hier in Reggio. Aber wenn europäische Ermittler das Wort „locale“ hören, dann denken sie an ein Restaurant. In Wirklichkeit ist ein „locale“ aber eine Ortsgruppe der ’Ndrangheta. Also: Europa ist im Jahr null im Kampf gegen die Mafia.

Noch mal: Warum ist das so?

Keine europäische Regierung will ein starkes Justizsystem. Ich kann mir das nur so erklären, dass sie das Geld der Mafien nicht dem Wirtschaftskreislauf entziehen wollen. Sie wollen nicht darauf verzichten.